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Die Schneiderin, der Assassine und seine Schwestern

Warnung: Diese Geschichte enthält Kaltblütigkeit, Gewalt und Andeutungen von Sex. Du magst das nicht? Lies nicht weiter!


Panyon beobachtet schon seit Stunden von seinem Versteck aus, liegend auf einem hohen Felsvorsprung, das Treiben unter ihm. An diesem belebten Ort der dunkelelfischen Unterwelt verläuft die legendäre Obsidianstraße, die berühmte Handelsstraße der Dunkelelfen, welche weit über die Grenzen der Unterwelt bekannt ist und sogar an der Oberwelt durch die Berichte entlaufener Sklaven zu einem gewissem Ruhm gekommen ist. Um genau zu sein endet hier die Straße, welche die großen und wirtschaftsstarken Städte der Dunkelelfen unter der Erde verbindet, denn nur wenige Wegminuten von Panyon entfernt erheben sich die mächtigen Mauern und Türme der sogenannten Stadt unter dem Wasser, Che'el harlniar. Hier in diesem gewaltigen Hohlraum, tief unter dem Grund des Ozeans, errichteten vor langer Zeit die Vorfahren der heutigen Bewohner, eine der prächtigsten und reichsten Städte des gesamten Unterreichs.

Hinter die mindestens 12 Schritte breiten und sogar noch erheblich höheren schwarzen Stadtmauern, welche im Halbkreis um die Stadt angeordnet sind und an der offenen Seite des Halbkreises lückenlos an die Rückwand der Höhle abschließen, erheben sich die grünen Kupferdächer der Gebäude und Türme aus hauptsächlich schwarzem Basalt.

Panyon interessiert sich jedoch für den Moment mehr für den Eingang der Stadt. Che’el’harlniar ist der Ort an dem er mit Abstand am unliebsten wäre und genau dort führt ihn sein Auftrag hinein. Eine Yathrin, also Priesterin, der er durch eine tragische Wendung des Schicksals verpflichtet ist, sandte ihn. Niemals könnte oder dürfte er ihr einen Wunsch ausschlagen, in seiner misslichen Lage, ohne mit einer Bestrafung, schlimmer als der Tod, zu rechnen. Vor der Stadtmauer befindet sich eine breite und übersichtliche Klippe, ebenfalls in Form eines Halbkreises. Sie bildet einen natürlichen Schutzgraben, den die Gründerväter von Che’el’halina für ihre Stadt ausgewählt haben. Trotz ihrer unvergleichlichen Augen, kann kein Dunkelelf bis auf den Grund des Grabens sehen. Dieses undurchsichtige, finstere Schwarz und wenige Gerüchte, welche sich im Laufe der Jahrhunderte bewahrheitet haben, sind Alles, was man über den Graben mit Sicherheit weiß. So hat sich herausgestellt, dass es tatsächlich Leben am Grund des Grabens gibt. Grüne, schleimige Höhlenegel, welche etwa zwei Schritt lang und je nach Futter dick und rund wie fette Maden im Speck werden. Das Futter sind die Felsen, um genau zu sein das Salz darin, welches sie herauslecken und dank dem Salz des Ozeans, in dieser Tropfsteinhöhle, nie versiegt. Salz enthalten jedoch auch die sterblichen Überreste unglücklicher Dunkelelfen und Sklaven, welche zur Bestrafung, zur Vertuschung oder einfach nur im Suff hineingestürzt wurden oder hineingestürzt sind. Ihre Gebeine, wenn man sie denn jemals finden würde, wären deshalb meistens schon nach wenigen Stunden, gänzlich blank und porös.

Es führt nur ein einziger Weg in diese schwer befestigte Stadt. Entlang der halbkreisförmigen, massiven Stadtmauer hinter dem Graben, befinden sich einige streng quadratische Wachtürme. Durch den größten Turm führt die Obsidianstraße durch den Torbogen. Um dort hindurch zu kommen muss man erst den Graben passieren. Eine Zugbrücke aus schweren, stabilen Holzplanken verbindet die Stadt mit dem Rest vom Unterreich. Wie in Panyons Erinnerung an diesen Ort, staut es sich auch heute, wie so oft, an diesem Nadelöhr. Mit Piken bewaffnete Stadtwachen kontrollieren jeden Besucher, der die Stadt betreten möchte.

Panyon war das letzte Mal vor sechs Jahren in Che’el’harlniar. Ein bis zwei Mal je Dekade schleicht er sich in die Stadt und holt sich Auskünfte über sein Qu‘ellar, das ist ein Drowhaus, und seine Mutter, die sogenannte Ilharess.

Vor über 100 Jahren fielen Panyon und sein Vater in unverzeihliche Ungnade bei der Ilharess. Als Folge dessen verloren er und sein Vater, der sogenannte Ilharn, sich aus den Augen und Panyon geriet mit seiner Halbschwester väterlicher Seite Lahja ins Exil. Zuerst in Vesper, später in Noamuth Yath unter Verschleierung ihrer Herkunft.

An den schwer bewaffneten Stadtwachen am einzigen Eingang führt leider kein anderer Weg vorbei. In seinen 300 Jahren Leben und Arbeit als Assassine und später sogar Waffenmeister der Stadt kennt er jeden geheimen Tunnel in der Stadt und so oft würden sie sich in einer so starren Gesellschaft, wie die der Dunkelelfen, auch nicht verändern. Die meisten Stadtwachen würden ihren ehemaligen Vorgesetzten sicherlich noch heute wiedererkennen. Zu gering sind die äußerlichen Veränderungen, die ein Dunkelelf in seinem langen Leben, erfährt. Und einen so wichtigen Posten würde selbst sein tölpelhafter Bruder, der wie Panyon denkt, sicherlich nun der neue Ul’Saruk, also Waffenmeister, ist, nicht mit unerfahrenen Soldaten besetzen.

Panyon dreht sich um zur Felswand auf dem Vorsprung, hinter dem er sich versteckt, und setzt sich an den dunklen Fels gelehnt hin. Sogleich greift er unter seinen Mantel. Der sehnige Dunkelelf trägt darunter eine außerordentlich gepflegte, aber alte Lederrüstung aus Rothenleder, die perfekt zu sitzen scheint. Das Wort Rothen ist von doppelter Bedeutung im Dunkelelfischen. Es bezeichnet einerseits Sklaven und andererseits Nutzvieh. Insbesondere die schwarzen Ziegen der Unterwelt, aus deren Haut auch diese Gewandung geschneidert ist. Vor langer Zeit muss seine Rüstung eine unverschämt teure Maßanfertigung gewesen sein. Versteckt unter dem Mantel sieht man seine Kampfausrüstung. Auf dem Rücken befindet sich ein exotisches Schwert. Ein Katana in einer edlen Holzscheide und einem Griff aus Rochenhaut. Offensichtlich ein Fabrikat der Handwerker der Oberwelt und außerordentlich selten im Reich der Dunkelelfen. Weiter versteckt er unter dem Mantel an seinem Leib eine kleine Armbrust, Bolzen an einem kleinen Halter an seinen Oberschenkeln und aus seinen alten, augenscheinlich sehr bequemen und über lange Zeit eingelaufenen Stiefeln ragt sicher verstaut der Griff einer weiteren kleinen Klinge. Unter Kreisen von Schneidern müsste sich Panyon wahrscheinlich anhören, dass seine Rüstung völlig aus der Mode sei und dieser antike Look bestenfalls ins Museum gehöre. In einer so oberflächlichen Welt, wie dem Unterreich der Dunkelelfen, sind sogar Rüstungen von wechselnden modischen Einflüssen nicht verschont.

Da ist wonach er gegriffen hat. An seinem Platz. Perfekte Ordnung. Aus Schlaufen an seiner rechten Flanke zieht er zwei Phiolen hervor. Darin das heterogene Gemisch, welches ihn bei seinem letzten Besuch durch die Tore und wieder heraus gebracht hatte. Panyon schüttelt die Phiolen. Der Trank darin vermischt sich und nimmt eine Türkis leuchtende Farbe an. Zwei Inkognitotränke. Er schaut die Phiolen für einen Moment zwischen seinen Fingern und Daumen der rechten Hand an.

‚Zu wenig.‘ Schossen ihm die Gedanken durch den Kopf. Und er hatte Recht. Diese würde er sich lieber aufheben für wenn es wirklich ernst wird. Mit diesem Entschluss verstaute er wieder die Phiolen an dem für sie vorgesehen Platz. Außerdem hat er schon einen alternativen Plan.

Eilig springt er auf und schlingt seinen Piwafwi um sich. Ein Piwafwi ist ein dunkelelfischer besonderer Tarnumhang, der die Farbe von Gestein und Höhlenwänden imitiert. Für den ungeschulten Beobachter wird der Träger damit beinahe unsichtbar. Mit einem kleinen Hops gleitet Panyon von seinem Beobachtungsposten auf dem Felsvorsprung in der riesigen Höhle herunter und rutscht den steilen Hang hinab. Unter seinen Stiefel, mit denen er hinunter surft, sorgen winzige Steinchen und sandige Felssplitter für genügend Abrollvorgang. Mit atemberaubender Geschwindigkeit rast er bald hinunter auf die Obsidianstraße zu. Seine Arme benutzt er dabei soweit möglich zum Balancieren. Panyons lange, silbrigen Haare hat er sich, wie meistens bei der Arbeit, zu einem festen Zopf gebunden und fallen deswegen nicht störend unter der Kapuze des Piwafwi zur Last. Der Piwafwi lässt es für die entfernten Beobachter auf der Stadtmauer und der Straße wie einen kleinen, harmlosen Steinschlag aussehen.

Am Ende des Hanges befindet sich auch gleich die Straße. Der Sprung vom Versteck aus, war für einen Assassinen, wie Panyon, natürlich nicht zu einem beliebigen Zeitpunkt gewesen, sondern perfekt getimt. Kurz bevor er die Straße erreicht beginnt er, so gut er kann, den Abrollvorgang zu beenden und wird langsamer. Auf der Straße vor ihm passierte zu dem Zeitpunkt gerade ein zweiachsiger Transportwagen, beladen bis zum Rand mit Bronze- und Zinngefäßen. Im Unterreich sind Metallprodukte oft günstiger als das seltene Ton, welches man von der Oberfläche kennt. Dem Wagen vorgespannt sind zwei Vehrn. Vehrn sind die typischen Reit- und Lasttiere der Dunkelelfen. Es handelt sich dabei um vegetarische, große, blau gescheckte Echsen, die sich auf den muskulösen Hinterläufen fortbewegen. Ihre rudimentären Ärmchen wirken dagegen schwächlich und nutzlos.

Der dunkelelfische Kutscher hatte natürlich den kleinen „Steinschlag“ längst bemerkt, aber schenkte dem keine besondere Aufmerksamkeit. Bröckelnde Felsen gibt es überall entlang der hunderte Kilometer langen, unterirdischen Obsidianstraße.

Kaum unten auf der grob gepflasterten, grauen Straße angekommen, hält Panyon an. Er braucht noch zwei, drei Schritte um sein Tempo dem der Kutsche direkt vor ihm anzupassen, und spaziert dann hinterher als würde er schon seit langem die Straße entlanggehen. Nurnoch etwa 1500 Schritte bis zum Stadttor. Panyon schaut sich um. Mehrfach in alle Richtungen, sogar zur Höhlendecke. Er sichert sich so gut es geht ab. In einem unbeobachteten Augenblick lockert er die Schnalle seines Gürtels, beschleunigte sein Schrittempo bis an den Wagen ran und wirft sich unter eben diesen von hinten. Mit elfisch-diebischem Geschick hangelt sich Panyon gänzlich unter den Wagen und klammert sich gleichermaßen mit Händen und Füßen an vorstehenden Teilen des hölzernen Unterbodens fest. Das laute gepolter der vier Holzräder stört ihn weniger, als sein Piwafwi in diesem Augenblick. Mit der linken Hand stopft er sich diesen noch eilig mit den Enden in die Hose. Um sich etwas Entlastung zu verschaffen öffnet er den Gürtel um seine Taille ganz, schlingt diesen um eine Querstange und lässt sich somit von diesem um seine Taille herum tragen. Mit dem Gesicht nach oben und gegen Erschöpfung im kommenden Stau vor dem Stadttor gut abgesichert hängt Panyon nun unter dem zweiachsigen Transportwagen und niemand hat ihn bei seinem Einstieg bemerkt.

Etwa zweihundert Schritte vor der Zugbrücke kommt das Gespann zu einem Halt. Panyon schaut über seine Schulter nach Vorne an den starken Beinen der Vehrn vorbei. Sie stehen im Stau. Jetzt wird es sich für ihn auszahlen, dass er sich festgeschnallt hat. Es dauert noch ungefähr eine halbe Stunde bis sie endlich direkt vor der Zugbrücke halten. Panyon sieht wie der Kutscher absteigt und einen Wächter um den Wagen führt. Um genau zu gehen sieht er deren Beine. Der Kutscher trägt nur ein paar leichte Sandalen aus einfachem Rothenleder und eine kurze Hose aus Leinenstoff. Er muss aus einer wärmeren Gegend des Unterreichs stammen, denn Sandalen und kurze Hosen trägt man üblicher Weise eher in Städten der Dunkelelfen mit Lavavorkommen oder örtlicher Nähe zu Magma. Orte wie Che’el’halnia unter dem Ozean und mit viel Frischwasser sind kühl und feucht. So trägt auch der Stadtwächter, wie die Meisten in der Stadt, Stiefel aus Rothenleder. An den Beinen tragen die Stadtwachen Kettenhosen mit Kniebucklern. Für Panyon nicht sichtbar ist das Hemd aus Kettengeflecht, welches die Stadtwachen tragen und ihren Waffenrock mit der Hausinsigne, einer Art dunkelelfischem Wappen des jeweiligen Qu’ellar. Es ist die Insigne des Qu’ellar Duskryn. Panyons Qu’ellar. Dem herrschenden Qu’ellar von Che’el’halnia. Üblicher Weise, so auch in diesem Fall sind die Rüstungen in Che’el’halnia, wie überall im Unterreich, aus Schattenstahl. Dieser schwarze Stahl mit violettem Schimmer ist wegen seines guten Preis-Leistungs-Verhältnisses sehr beliebt bei den Dunkelelfen. Der Stadtwächter trägt außerdem Lederhandschuhe aus Rothenleder und einen sogenannten Eisenhut aus Schattenstahl. Ein typischer Infanteriehelm der Duskryn, dessen breiter Krempel vor Schlägen von oben schützen soll.

Anscheinend schaut der dunkelelfische Stadtwächter über die Waren auf dem Gespann. Dabei fasst er nichts an und behält seine Hellebarde stets in der Hand.

„Das macht 50 Goldmünzen Zoll und du verpflichtest dich deine Waren mindestens einen Tag und eine Nacht lang auf einem der Marktplätze der Stadt feil zu bieten.“ Sagte der Duskryn Stadtwächter. Jetzt, da er ganz vorne in der Schlange vor der Zugbrücke stand könnte er auch kaum ablehnen, denn sein Wagen hätte hier nicht mehr genug Platz zum Wenden gehabt. So bezahlt er die 50 Goldmünzen bei einer anderen Stadtwache, die hinzugekommen ist mit einer Truhe speziell für die Kasse. Man notiert den Namen des Kutschers, seine Herkunft und die Art seiner Ware. Dann endlich dürfen sie passieren und poltern über die massive, hölzerne Zugbrücke, vorbei an den Beinen der insgesamt drei Stadtwachen, die direkt an der Zugbrücke Wache halten und keinen Posten auf dem Turm und den Mauern darüber bezogen haben.

Kaum in der Stadt wird es sofort sehr viel lauter und hecktischer. Der Wagen, an dessen Unterboden sich Panyon geschnallt hat, kommt kaum noch an den vielen Dunkelelfen und Sklaven, hauptsächlich menschlichem Ursprungs, vorbei. Immer noch hält er sich fest solange sie auf der Hauptachse, einer schnurrgeraden Straße vom Tor direkt zum Eingang des Tempels der Lloth, fahren. Als sie endlich in eine Seitenstraße abbiegen schaut sich Panyon, so gut es von seiner Position aus geht, um, löst den Gürtel, mit dem er sich an den Wagen geschnallt hatte und lässt sich auf den gepflasterten, grauen Straßenbelag fallen. Er bleibt flach auf dem Boden liegen, bis der Wagen ganz über ihn hinweg gefahren ist und steht dann sofort auf, klopft sich ab, zieht die Kapuze tief ins Gesicht und versucht sich zu orientieren. Wie ein gehetztes Tier sieht er sich geduckt stehend um, während das Geräusch der Räder seiner unfreiwilligen Mitfahrgelegenheit immer leiser wird und endlich verklingt. Als er merkt, dass ihn niemand gesehen hat richtet er sich beruhigt gerade auf, geht an den Straßenrand und schließt seinen Gürtel wieder, mit dem er sich vorher am Wagen festgeschnallt hatte. Panyon schaut kurz über seine Schulter. Er will nicht zu schmutzig vom Dreck auf dem Straßenpflaster herumlaufen. Dies zieht nur unnötig viele Blicke auf ihn. Doch er scheint sauber genug zu sein, denn er nickt sich stumm zu. Wie ein Süchtiger, der seit Stunden auf Entzug ist, greift er in seine Tasche und holt eine Schachtel Zahnstocher hervor. Es ist eine schlichte Schachtel aus Holz, aber allein das Material macht sie im Unterreich ein klein bisschen kostbar. Als sei es eine Zigarette, steckt er sich einen der Zahnstocher in den Mund, während er sich orientiert. Die Gasse kannte er. Nicht weit von hier hatte vor sechs Jahren, bei seinem letzten Besuch, noch eine gute Freundin ihre Nähstube.

So schreitet er zielstrebig, aber höflich zurück auf die Hauptachse, bedacht niemanden unnötig anzurempeln und anderweitig Aufmerksamkeit zu erregen. Seine schwarze Kleidung würde in jeder Stadt der Oberfläche auffallen wie ein bunter Hund und man würde ihn allein deswegen schon verdächtigen. Nicht so im Unterreich. Für Dunkelelfen ist es nichts ungewöhnliches sich zu vermummen und Kleidung zu tragen, die man sonst eher einem Dieb zuordnen würde.

Die Hauptachse zieht sich beinahe durch die ganze Stadt und endet erst tief im Tempeldistrikt direkt vor den Toren, des mit Abstand größten Gebäudes in Che’el’halnia, dem Tempel. Die Mauern, des schwarzen Bauwerks recken sich in einer ganz eigenen dunkelelfischen Architektur bis knapp unter die Höhlendecke. Kein Gebäude der ganzen Stadt, nicht einmal die Qu’ellar Paläste, reichen hoch genug. Der dominiert, wie ein großer Turm die ganze Stadt, der nach oben hin, wie eine sehr steile Stufenpyramide, je Stockwerk, schmaler wird. Dabei sind die Außenfassaden nahezu schmucklos und glatt. Der polierte, schwarze Stein, glänzt wie der Panzer einer schwarzen Witwe und die zackigen Kupfergiebel auf der Turmspitze erinnern entfernt an eine Krone. Überall in der finsteren Stadt, so auch an den Wänden des Tempels, scheint Kerzenlicht aus den Fenstern. Obwohl Dunkelelfen in der Finsternis gut sehen können, brauchen sie künstliches Licht für ihre Sklaven. Entlang der Hauptachse gibt es sogar Straßenlaternen.

Nach einem kurzen, ereignislosen Wegstückt auf der Hauptachse biegt Panyon wieder in eine Nebenstraße ab und von dieser wieder in eine noch kleinere Seitenstraße. Alle Straßen in der Stadt sind perfekt gepflastert, allerdings hilft das nur bedingt. Zwar versinken so keine Karren und Kutschen im losen Matsch, aber die vielen Pfützen in dieser Tropfsteinhöhle machen das Granitpflaster sehr rutschig. Häufig fällt man unglücklich hin, wenn man es nicht gewöhnt ist. Insbesondere die nachtblinden Sklaven haben darunter sehr zu leiden. Er kommt vor einem der zahllosen Gebäuden aus schwarzen Granitblöcken zum stehen. Hinter einem vergitterten Schaufenster sieht man eine Ankleidepuppe, welche ein hellblaues Kleid aus Leinenstoff trägt. Anhand des einfachen Materials, der schlichten eintönigen Färbung und einem Schnitt, der eher in die dunkelelfische Mode der letzten Saison einzuordnen gehört, erkennt man deutlich, dass es sich um ein Kleid für eine Sklavin oder weniger betuchte Kundschaft, von der es reichlich in Che’el’halnia gibt, handelt. An der Tür haftet ein bronzenes Schild mit den Öffnungszeiten. Panyon schaut sich kurz um. Er stellt fest, dass ihn niemand zu verfolgen scheint und legt dann erst seine Hand an die Tür und drückt sie auf um hineinzugleiten.

Klingelingeling! Ein vergoldetes Glöckchen über der Tür verrät seinen Besuch. Alarmiert zuckt Panyon zusammen und schaut sich um. Eine Sekunde später hat er das Glöckchen entdeckt und zieht seine Hand unter dem Mantel wieder hervor. Er verdreht etwas die Augen, richtet sich wieder auf und schließt die Tür hinter sich. Dann der nächste Schock: „Mama, du hast Kundschaft.“ Ertönte eine Kinderstimme, anscheinend die eines Mädchens, aus einem Nebenzimmer. Sehen konnte Panyon von der Eingangstür aus allerdings nichts. Mit hochgezogenen Augenbrauen wagte sich Panyon über den, mit einfachem Teppich ausgelegten Verkaufsraum des Schneidergeschäfts, Boden hin zum Eingang des Nebenzimmers, aus dem die Kinderstimme ertönte. Das Zimmer war nur durch einem blauen Perlenvorhang im Türrahmen vom Verkaufsraum getrennt. Leise klimpernd zog er den Perlenvorhang zur Seite und sah in das Zimmer. Ein weiterer Ausstellungsraum voller Schaufensterpuppen und Kleiderbügeln mit Damen- und Herrengewandung. In Mitten des Raumes auf einem rot gemusterten Teppich sitzt ein kleines Mädchen. Augenscheinlich zwischen fünf und sechs Jahren alt und spielte mit einer Puppe, der sie die Haare kämmte. Das Mädchen sitzt Panyon den Rücken zugekehrt und scheint sich gar nicht an seiner Anwesenheit zu stören. Vielmehr beginnt es sogar noch damit ein Liedchen zu summen und spielt einfach weiter ohne ihn anzusehen.

„Ich habe mich schon gefragt, wann du wieder einmal auftauchst, Panyon.“ Klingt kühl die Stimme einer erwachsenen Frau von hinten links. Panyon hatte sie längst kommen gehört, aber dreht sich erst jetzt zu ihr um. Die Dunkelelfe steht in einem weiteren Türrahmen, der weitere Räume mit dem Verkaufsraum zu verbinden scheint. Augenscheinlich, wie die meisten Dunkelelfen, eine jugendliche Frau, die gerade erst erwachsen geworden zu sein scheint, aber sich kleidet wie eine Dame und ebenso bewegt. Eben schmiegt sie sich noch mit dem ganzen Leib, den Armen und Beinen verführerisch an den Türrahmen, dann stößt sie sich auch schon davon mit beiden Händen sanft ab. Berechnend wiegt sie ihre Hüfte als sie auf Panyon zugeht und ihre hohen Absätze an den ansonsten antik anmutenden Sandalen helfen ihr noch dabei. Er mustert sie und findet Gefallen an ihrem roten Kleid. Um genau zu sein eigentlich am weiten Einschnitt in ihrem langen Rock, der viel von ihren grazilen, nackten Beinen offenbarte, aber er versucht sich nichts davon anmerken zu lassen. Auch wenn sein Blick, unter der Kapuze immer wieder hinab gleitet. „Wie hast du mich erkannt, Celise?“ fragt er.

Direkt vor Panyon kommt sie zum stehen. Etwas kleiner als er, schaut sie zu ihm hinauf, direkt in seine roten Augen. Mit ihrer rechten Hand greift er an seinen Zahnstocher in seinem Mund und zeigt ihm diesen, streichelt noch etwas damit über sein Kinn und wirft ihn dann weg. Sie können spüren, wie sie atmen. So dicht stehen sie voreinander. Sein Gesicht ist kaum zu sehen, aber er sieht ihre hungrigen gelben Augen. Sie legte denselben gierigen Blick auf, den er in Erinnerung an sie bewahrt hatte. Ungefragt zieht sie ihm die Kapuze hinter den Kopf und entblößt seinen langen silbrigen Zopf um ihn dann sinnlich auf den Mund zu küssen und im Nacken zu umarmen. Nur zaghaft erwidert er ihren Kuss, fasst sie ein wenig an der schlanken Taille an. Zu viele offene Fragen sind gerade eben, denen die er sowieso stellen wollte hinzu gekommen.

„Der Zahnstocher natürlich.“ Antwortete sie ihm dann auch noch verbal.

Damit war der Entschluss gefallen in Che’el’halnia für den restlichen Aufenthalt lieber keinen Zahnstocher mehr in den Mund zu nehmen.

„Ich habe ein paar Fragen an dich, Celise.“

„Du kommst mich doch immer nur besuchen, wenn du meine Hilfe brauchst, Panyon.“ Sagt sie etwas künstlich beleidigt. Doch dann setzt sie ein zuckersüßes Lächeln auf. Dunkelelfen Männern ist es praktisch angeboren sich zu gruseln, wenn Frauen Lächeln. Meistens bedeutet das nämlich nichts Gutes für sie. „Ich möchte dir gerne unsere Tochter vorstellen.“

Damit war es geschehen. Diese Gänsehaut würde Panyon so schnell nicht wieder los werden.

„Unsere Tochter.“ Sagt er vorsichtig lächelnd mit zusammengebissenen Zähnen. „Von mir?“

Doch Celise antwortet nicht auf Panyons Frage, sondern geht zu einem Hocker an ihrem Nähtisch.

„Yasraena, mein Spinnchen. Komm mal her!“ ruft sie nach dem Kind, welches daraufhin aufsteht und in die Arme ihrer sitzenden Mutter läuft. Celise hebt Yasraena auf ihren Schoß.

Innerlich entsetzt und nach außen möglichst gleichgültig mustert Panyon das Mädchen. Yasraena sieht ihm wirklich bedenklich ähnlich. Vor allem das silbrige Haar und die roten Augen fallen auf. Wer Panyon und Yasraena gemeinsam sieht würde sie sofort für Vater und Tochter halten. Lächelnd hält Celise Yasraena auf ihrem Schoß und spricht dann weiter: „Ich möchte dir deinen Vater vorstellen. Sag hallo!“

„Hallo Papa.“ Sagt sie etwas genervt, fast gleichgültig und schaut dann zu Celise „Ich will jetzt weiter spielen.“

Schmunzelnd hebt Celise ihre Tochter wieder auf den Boden und lässt sie zurück ins Nebenzimmer laufen.

Nachdem sie aus dem Blickfeld der Erwachsenen verschwunden war fragt Panyon direkt: „Wie alt ist sie?“

„Sie ist vor ein paar Wochen fünf Jahre alt geworden.“ Und ergänzt scharf „Sie ist deine Tochter.“ Dieser Tonfall bedeutet bei dunkelelfischen Frauen immer, dass keine Widerrede geduldet wird. So nickte Panyon auch nur.

Gelassen schlägt Celise ihre Beine übereinander, streicht ihren roten Rock darüber glatt und legt die Hände in den Schoß, bevor sie aufschaut zu Panyon, der noch immer steht, und fragt: „Also was wolltest du mich noch gleich fragen?“

Kein Small Talk. Direkt zum Punkt. Eine der Eigenschaften, die er an dieser Frau mochte. Ganz davon abgesehen, dass sie ihn seit über einem Jahrhundert nicht verraten hat. Endlich mal eine Situation für die er ausgebildet, für die er geboren und gezeugt wurde. Darauf würde er ihr präzise antworten können: „Ich bin auf der Suche nach einer Spionin aus Noamuth Yath. Eine auffällige Assassine. Sie ist noch sehr jung, fast wie ein Kind, aber als die Tochter der Yathbeldra, durch diese, sehr gefährlich. Auffällig sage ich, weil ihre Haut mit einem Schimmer von Jade gänzlich überzogen ist. So jemand bleibt nicht lange unentdeckt. Hast du sie gesehen?“

„Mmh… selbst wenn, was hätte ich davon?“ Dann klingt Celise etwas neugieriger. „Sag mal! Lässt du dich noch immer von deiner Halbschwester herumkommandieren? Bist du das nicht irgendwann leid?“

„Es ist nicht ganz so einfach. Du kennst die ganze Geschichte.“

„Ja.“ Seufzt Celise und pfeilt sich währendessen die Fingernägel mit einer Pfeile, die auf dem Nähtisch gelegen hat.

Gespannt auf ihre Antwort steht Panyon vor ihr, damit kämpfend, sich auf seinen Auftrag zu konzentrieren und nicht auf Celises Beine. Dann endlich rückt sie mit ihrer Forderung heraus: „Yasraena ist deine Tochter. Das ist sie, ob du es glauben willst, oder nicht, mein Lieber.“ Furchtbar kühl bleibt sie dabei und würdigt Panyon, wie so typisch für die Frauen seines Volkes, keines Blickes. „Deine Mutter, unsere weise Ilharess Aleandra,“ die Ironie ist unüberhörbar hat nurnoch eine Tochter und der Waffenmeister unseres gemeinsames Qu’ellars, dein Bruder, darf sich auch nicht vermehren um die Stellung deiner letzten Schwester als Thronfolgerin zu gefährden. Wobei noch niemand seine Rechnung mit Yasraena, Aleandras einziger blutsverwandter Enkeltochter, gemacht hat. Wenn Mavra Duskryn, deiner kleinen Schwester, aber etwas zustößt kannst du dir ausmalen, wo Yasraena auf einmal steht?“ Dann lächelt sie vielsagend. Kurz darauf pfeilt sie aber an ihren Fingernägeln weiter, schaut ernst und fragt ebenso: „Worauf wartest du noch? Du willst doch etwas von mir.“ Dann winkte sie ihn davon. Bevor er den angenehm warmen Raum verlässt um seinen Teil der Abmachung zu erfüllen zieht er sich wieder die Kapuze über und greift in die Tasche, wo er seine Zahnstocher drin aufbewahrt, aber lässt sie dann doch lieber unangetastet.

„Aluve Celise“ sagt er im Hinausgehen. Dieses Mal erschrickt er aber nicht, als das Glöckchen bimmelt.


Viele Gebäude sind nicht nur als Reihenhäuser in der engen, klammen Stadt miteinander verbunden, sondern in den höheren Etagen auch oft mit steinernen Hochwegen und Brücken, sowie Aquädukten. Nach einem kurzen Spaziergang durch und über das Viertel des Qu’ellar Duskryn findet er sich gut versteckt mit seinem Piwafwi auf einem der weniger steilen grünen Giebeldächer mit Sicht auf den Palast der Ilharess wieder. Gründlich suchte er nach einem Schwachpunkt. Einem Eingang, wie er es auch schon beim Stadttor tat. Dieses Mal musste er sich aber auch noch Gedanken um die Flucht machen. Man kann nicht einfach in den Palast eines Drowhauses einbrechen, die Tochter der Ilharess ermorden und nach draußen spazieren. Das Haupttor durfte man nur auf Einladung passieren und wurde dabei gefilzt. Das Schlafzimmerfenster zu Mavras Gemächern war mindestens vierzig Schritt über dem Boden und die Wände sind glatt und bieten kaum Halt. Selbes galt für ihren Balkon. Seine Observation dauert lange und die ersten Stadtbewohner zieht es zum Tempel. Mehr werden es und bald sind es Scharren, die zur Abendpredigt in den riesigen Tempel gehen. Mavra und Aleandra, die seit jeher als wenig llothfürchtig gelten, verlassen nicht ihren Palast. Und dies obwohl sie es von allen drei ortsansässigen Drowhäusern am Nächsten haben, denn der Palast ist in Nachbarschaft zum Tempel. Nur getrennt durch eine breite Straße. Panyon beobachtet die vielen Gläubigen, die über eben jene Straße, die anderen Straßen und die Hauptachse in das gewaltige, sich zehn Schritt Richtung Höhlendecke streckende Tor des Tempels strömen. Wie ein glitzerndes Spinnennetz werden nun die sonst stockfinsteren Straßen der Stadt erhellt vom Schein, der rituellen weißen Kerzen. Jeder Gläubige trägt eine solche Kerze mit beiden Händen vor sich haltend auf dem Weg in den Tempel. Dabei singen die Dunkelelfen ein immer gleiches Lied, welches im Chor die ganze Stadt aufmerksam macht und weitere Gläubige auf die Straße lockt, um sich ihnen anzuschließen. Es ist ein schönes Lied, welches selbst den Oberflächenbewohnern gefallen könnte, wenn sie den Liedtext nicht verstehen oder ignorieren. Hierbei wechseln sich die Männer und Frauen nach strengen Regeln in den Strophen ab. Zusammengefasst geht es darum, dass die Frauen den Männern Lloths Doktrin diktieren und die Männer den Frauen ihren Gehorsam geloben. Ein eigentümliches Gesangsritual, welches in Noamuth Yath nie Einzug gefunden hat. Doch auch als Panyon noch vor über einem Jahrhundert in Che’el’halnia lebte nahm er nie daran teil. Nicht nur Mavra und Aleandra. Das ganze Qu’ellar Duskryn gilt als religiöse Muffel.

Aber Panyon überkommt auf einmal der Drang heute mal in den Tempel zu gehen. Sogleich mischt er sich unter die Gläubigen auf dem Weg zum Tempel und stimmt auch in den Gesang ein um möglichst wenig aufzufallen. Als er das riesige Tor zum Tempel durchschreitet wirken die mächtigen, schwarzen Quader, aus denen das Gebäude errichtet ist, wie kleine Ziegelsteine im Verhältnis zu den gewaltigen Ausmaßen, die der Tempelturm erreicht. Im Tempel dann hat er wenig Zeit. Er braucht eine Ablenkung auf dem Flur. Und zwar sofort, bevor er im Hauptsaal ankommt und sich nicht mehr aus der Gruppe lösen kann.

„Hey, was soll das, Jaluk!“ wurde der religiöse Gesang von einer Dunkelelfe unterbrochen, der ein Mann unglücklich auf den Rücken gestolpert ist und dabei Wachs, von seiner Kerze, auf ihr schönes Gewand gekleckert hat.

Der dunkelelfische Mann holt gerade Luft und verneigt sein Haupt um ihr zu antworten und sich zu entschuldigen, aber dazu kommt er gar nicht mehr. Wutentbrannt zieht die Frau einen Dolch und sticht ihn ab. Die Yath’abban, das sind Tempelagenten, eilen herbei und versuchen den eskalierenden Aufruhr auf dem Tempelflur zu lösen. Und in all dem Tumult, den Panyon mit einem unbemerkten Schubsen ausgelöst hat, gelingt es ihm sich durch einen, nun völlig unbewachten, Seiteneingang ins Treppenhaus zu stehlen. Der Seiteneingang ist ein gotischer Torbogen aus dem selben schwarzen Granit, wie die restlichen Mauern. Der Schlussstein ganz oben ist mit einem Relief in Gestalt einer Spinne geschmückt. Gleich hinter dem Eingang befindet sich die unbeleuchtete Wendeltreppe nach oben und tiefer hinunter, in den Keller. Panyon eilt nach oben. Vor jedem Ausgang hält er an und späht mit einem Handspiegel aus seiner Tasche vorsichtig um die Ecke. Wenn niemand zu sehen ist läuft er weiter die Treppe hinauf. Hinauf bis ganz nach oben, dicht unter die Turmspitze. Durch eine uralte, knarzende Tür geht er hinaus auf den Balkon und schließt diese wieder hinter sich. Hier oben ist es sehr viel stiller als unten auf den Straßen.

Panyon interessiert sich nicht für den atemberaubenden Ausblick. Von hier sieht man wie silberne Spinnenfäden, die herbeiströmenden Gläubigen mit ihren Kerzen in den Straßen und Gassen Che’el’halnias. Die Fenster aus denen warmes Kamin- und Kerzenlicht scheint färben das triste Schwarz der Stadt aus Granit an einigen Stellen warm und festlich. Ganz anders jedoch die Orte an denen die Aquädukte verlaufen und der Tropfstein die Kupferdächer nass werden ließ und dazu brachte grüne Patina anzusetzen. Dies sind die ungemütlichsten Stellen der Stadt. Dort verbringt niemand mehr Zeit als nötig. Dort ist es kalt und nass. Noch kälter und nasser als sowieso in Che’el’halnia.

Panyon geht bis zum Rand von dem was wie eine Krone auf dem Turmdach aussieht. Direkt vor ihm auf der anderen Straßenseite liegt der Palast des Qu’ellar Duskryn etwa 20 bis 30 Schritt tiefer.

Panyon zögert nicht. Er wartet nur hinter einem der Kronenzacken sitzend bis er das rechte Maß zwischen Adrenalin und Ruhe gefunden hat. In der Zwischenzeit holt er aus seiner Tasche einen zusammengeklappten Enterhaken aus Stahl. Eine besondere Konstruktion. Der Werkzeugmacher, der ihm diesen hergestellt hat, ist leider viel zu jung aus dem Leben getreten. Auf Knopfdruck schnellen die Haken seitlich hervor. Auf diese Weise lässt sich der gesamte Enterhaken besser transportieren und sogar verstecken, wenn nötig.

Als er glaubt sich geistig darauf ausreichend vorbereitet zu haben lunzt Panyon mit dem Handspiegel aus seiner Tasche um die Ecke über den Rand des Balkons. Niemand ist zu sehen. Panyon springt auf und verknotet ein langes, besonderes Seil, welches Teil seiner uralten Assassinenausrüstung aus besseren Zeiten ist, mit dem Enterhaken. Dieses Seil ist leicht und platzsparend, aber trägt dabei ein hohes Gewicht, wenn nötig. Teuer war es. Ein Geschenk von seiner Mutter Aleandra, bevor es zum Bruch kam. Er wüsste zu gerne woraus das Seil gefertigt ist.

Geschickt schwingt Panyon seinen Enterhaken am Seil über dem Kopf und wirft es dann nach einem ganz bestimmten Balkongeländer 40 Schritt über dem Boden und etwa 25 Schritt unter ihm. Unglücklich laut schlägt der Enterhaken auf dem steinernen Balkon auf. Er erstarrt für einen Moment, mit der Hand bereits unter dem Mantel an der Armbrust. Erleichtert atmet Panyon auf als niemand herauskommt und der weiße, leicht durchsichtige Vorhang vor der Balkontür noch immer halboffen seicht im Luftzug weht und vom gelben Kerzenlicht im inneren des Raumes leicht getönt wird.

Langsam und vorsichtig zieht Panyon den Enterhaken ans Balkongeländer bis er hängen bleibt. Das Seil knotet er straff gespannt an den nächsten Zacken der Dachkrone. Mit einem festen Ziehen mit der rechen Hand überprüft Panyon den Halt. Es scheint sein Gewicht tragen zu können. Und das hoffte er auch in so schwindelerregender Höhe. Wieder sicherte er sich in alle Richtungen ab, dass er nicht beobachtet wird. Dann schwingt er sich an das Seil, mit den Piwafwiecken in den Gürtel gesteckt, und hangelt sich ganz vorsichtig hinab. Es ist ziemlich steil und kostet viel Kraft nicht hinab zu rutschen. Bei all der Kletterei muss er auch noch sein Gepäck und die Waffen mit hinüber transportieren, was erschwerend hinzukommt. Plötzlich, etwa drei Schritt weiter, nun frei über dem Tempel hangelnd, schaut eine Ratte aus seinem Rucksack unter dem Taschendeckel hervor. Es ist Panyons zum Stehlen und Ablenken abgerichtete Ratte. Sie schnuppert mit ihren Schnurrharren die kalte, nasse Luft. Dann steigt sie aus dem Rucksack hinaus und klettert an Panyon hinauf.

Mit zusammengebissenen Zähnen meint er: „Verschwinde zurück in den Rucksack!“

Doch die Ratte lässt sich reichlich Zeit damit. Endlich nach einer ganzen Weile und der Erkenntnis, dass sie hier nicht so leicht runter kommt, verschwindet die Ratte wieder im Rucksack. Unter Panyon merkt niemand von den vielen Dunkelelfen auf der Straße, was über ihren Köpfen geschieht. Auch noch nicht als Panyon am Balkongeländer angelangt ist und darüber steigt. Vorsichtig schleicht er neben den Vorhang an der Balkontür. Wobei es mehr ein stets offener Durchgang ohne Tür ist. In vierzig Schritt Höhe erwartet man selbst im Unterreich keine ungebetenen Gäste. Schon gar nicht in einem bewachten Palast. Mit seinem Handspiegel lunzt Panyon um die Ecke. Er sieht eine Dunkelelfe in ihrem weißen Nachthemd. Die Frau sitzt vor ihrer Schminkkommode. Sie scheint sich schon für die Nacht fertig zu machen, denn sie ist barfuß und macht auch sonst, so ganz ohne Schmuck, nicht den Eindruck als wolle sie noch vor die Tür gehen. Sie kämmt ihr weißes Haar mit einem Kamm aus sichtlich kostbarem Elfenbein von der Oberfläche. Weiter sieht Panyon im Schlafzimmer dieser Frau, dass die ansonsten dunklen, kahlen Wände mit farbigen Tüchern aufgelockert sind. Das edle, wurzelhölzerne Himmelbett mit seidenen Laken in tiefem Blau passt gut zum königsblauen Teppich mit goldenem Muster auf dem ganzen Boden bis in die Winkel des rechteckigen Raumes.

Als hätte er alle Zeit der Welt packt Panyon geräuschlos den Handspiegel zurück in die Tasche und greift nach seiner Armbrust unter dem Mantel, sowie nach einem der Bolzen an seinem Halter am Oberschenkel. Schnell ist die Armbrust geladen. Im Kerzenlicht, welches aus ihrem Schlafzimmer scheint blinkt die Spitze des Bolzens kurz auf. Dann tritt auch Panyon in das Licht, in die Balkontür. Er sieht das Gesicht der Dunkelelfe im Spiegel ihrer Kommode. Mit absoluter Gewissheit erkennt er sie wieder.

„Panyon!“ sagt sie völlig überrascht als sie ihn in ihrem Spiegel sieht. Sie dreht sich zu ihm und versucht aufzustehen. Doch sobald Panyon ihr Gesicht sehen kann drückt er den Abzug seiner Armbrust und schießt ihr den Bolzen in den Hals. Gurgelnd bricht sie über ihre Kommode und dem Hocker zusammen, als sie mit dem Geschmack ihres eigenen Blutes auf der Zunge ihren letzten rotschäumenden Atemzug tut.

„Vendui‘ Mavra“ grüßt Panyon seine sterbende Schwester nebensächlich und packt währendessen seine Armbrust wieder ein. Gerade dreht er sich wieder zum Ausgang um und macht einen Schritt hinaus als er das Geschrei eines Säuglings aus dem Schlafzimmer hört. Noch einmal geht er zurück in den Raum und schaut sich um. Das Geräusch kommt von rechts. Er schiebt einen schweren grün-goldenen Vorhang, der als Raumtrenner dient, zur Seite und sieht in einer Krippe liegend einen dunkelelfischen Säugling. Das Kind schreit. Es muss Mavras Tochter oder Sohn sein schoss ihm sofort durch den Kopf und legt die Hand an den Griff seines Katanas. Mit einem klacken löst er sein Schwert und beinahe geräuschlos zieht er das filigrane Schwert schwungvoll heraus um noch im selben Zug das Kind seiner Schwester kaltblütig zum Schweigen zu bringen. Am Vorhang wischt er die Klinge sauber und scheidet sie wieder. Dann endlich kann er die Flucht über den Balkon zurück antreten.


Etwa zwei Stunden später kommt Panyon mit Glöckchen Geklingel in Celises Schneiderei an. Etwas durchgefroren schüttelt er, gleich nachdem er die Tür wieder geschlossen hat, seinen Mantel aus.

„Ich bin zurück.“

„Ich weiß.“ Sagt Celise ohne ihn anzuschauen. Sie sitzt an ihrem Nähtisch, die Beine übereinander geschlagen, so dass Panyon, der zur Tür reinkommt, mit einem verführerischen Ausblick auf den seitlichen Einschnitt in ihren roten Rock begrüßt wird. Um genau zu sein auf ihre nackten Beine und Füße dahinter.

„Du hast den Säugling nicht erwähnt.“

„Welchen Säugling?“ Fragt sie ahnungslos. Jedenfalls klingt sie so.

„Mavras Kind.“

„Davon wusste ich nichts. Sie muss es verheimlicht haben.“ Jetzt sieht sie Panyon an und fragt: „Du hast doch beide getötet?“

„Ja.“ Antwortet er finster. Noch immer in seine volle Montur gehüllt.

Mit einem hinterlistigen Lächeln steht Celise anmutig auf und geht, die Hüfte wiegend, auf ihn zu. Mit dem Zeigefinger streichelt sie ihm über den Lederharnisch und schmiegt sich etwas an ihn.

„Brav.“ Sagt Celise und schmunzelt spielerisch als hätte sie gerade einen Hund gelobt.

Panyon kann sich schon denken worauf Celise aus ist und würde nur zu gerne, aber er hat auch noch einen dringenden Auftrag von Lahja zu erfüllen. So kommt es, dass er ein wenig widerwillig die nötige Frage stellen muss: „Wo ist die Spio…“

Doch Panyon wird von Celise unterbrochen, die ihm den Zeigefinger auf die Lippen presst.

„Sssch! Yasraena schläft schon.“ Und mustert Panyon gierig von oben nach unten. Sie geht einen halben Schritt rückwärts und lässt sich ihr rotes Kleid über die Schultern zu Boden gleiten. Nackt präsentiert sich die Dunkelelfe mit einem teuflischen Lächeln und bringt Panyon in ihr Schlafzimmer.

Irgendwann während des Liebesaktes wird sie ihm alles berichten, was sie über die fremde Dunkelelfe mit der eigentümlichen Haut gehört und gesehen hat.

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