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Das Wunder der Mittsommernacht

„Trink noch einen mit uns!“ rief einer der hochgewachsenen Nordmann Krieger laut und heiter Hrodrik zu als dieser Anstalten machte aufzustehen. Anlässlich Mittsommers wurde an diesem Abend ein traditionell großes Fest für die Bewohner des Dorfes, von ihnen für sich selbst, abgehalten. Die strahlende Sonne schien an einem beinahe wolkenlosen blauen Himmel, welcher nur durch ein paar sehr zarte weiße Wolkenbänder geziert wurde. Die Ahnen mochten ihren Söhnen und Töchtern zuschauen, wie sie ausgelassen feierten, war die allgemeine Meinung ob so schönen Wetters. Islaug, der beste Tischler von Kindred, und sein ansonsten nichtsnutziger Lehrling, fertigten speziell für die sogenannte weiße Nacht eine lange Tafel aus mehreren groben Tischen und Bänken, gefertigt nach altem Brauch aus den Stämmen junger Bäume aus dem Umfeld von Kindred. Da neue Möbel für die Sommersonnenwende meistens nur einmal, wenn überhaupt, in einer Generation getischlert werden müssen ist es immer eine große Ehre für den Schreiner, der sie herstellen darf. Entsprechend betrunken war Islaug auch schon zu so früher Abendstunde. Ausgelassen feierte er nicht nur Mittsommer, sondern stolz auch sein Geschenk für das Dorf. In der Dorfgemeinschaft war es seit der Zeit in der Uthgar über die Bären herrschte unüblich den Tischler für die Möbel zur Feier anlässlich der weißen Nacht mit Geld oder Naturalien zu bezahlen. Die Ehre sei Lohn genug. Islaugs Lehrling seinerseits, ein schmächtiger junger Mann für sein Volk mit dem barbarischen Allerweltsnamen Hauk, versuchte vergeblich Gjafla, die weit ältere nordische Kriegerin, zu bezirzen. Gjafla, eine gestandene und kampferprobte Frau, die sich bereits den Respekt vieler männlicher Krieger zu verdienen wusste war davon allerdings nur genervt und zog in Gedanken bereits in Erwägung den Platz an der Festtafel, die wie ein großes U um ein prächtiges loderndes Feuer angeordnet war, zu wechseln um ihn los zu werden.

Gedeckt war die Tafel reichlich mit frischem Brot und etwas Gemüse aus der Region, welche um diese Jahreszeit wieder etwas mehr Ernte abwarf als im übrigen kalten Jahr. Doch das eigentliche Essen war das fette Spanferkel, welches abseits vom Gelage an einer Blockhauswand gegrillt wurde. Stunden brauchte es um endlich gar zu sein, aber schmeckte offensichtlich allen Dorfbewohnern ganz köstlich, und Yngvand, der Stammeskoch, konnte sich rühmen diesen Titel zu Recht zu tragen. Gegessen wurde natürlich mit bloßen Händen von den Holztellern und –Schalen. Wenn überhaupt nutzen Nordmänner höchstens ein Messer um größere Stücke, die sich schlecht abbeißen lassen in mundgerechte Happen zu zerschneiden. Dazu floss reichlich Met in jedem Becher, Trinkhorn und Krug. Augenscheinlich waren alle glücklich und sorglos in dieser magischen Jahreszeit, an jenem Feiertag an dem die Sonne, hier am nördlichen Polarkreis, nicht ganz untergehen werden würde.

„Ich habe noch etwas zu erledigen.“ Antwortete Hrodrik nicht ganz so mürrisch wie sonst. Auch bei ihm wirkte sich die allgemein ausgelassene Stimmung positiv auf das Gemüt aus.

„Doch nicht heute.“ Sprach der Krieger lachend mit dem Becher Met in der rechten Hand und winkte Hrodrik herbei. „Setz dich wieder!“

„Ich bin zur nächtlichen Andacht am Altar der Ahnen wieder zurück.“ Brummte Hrodrik lediglich und stand unbeirrt auf. Kurz legte er noch seine Arme freundschaftlich auf die Schultern seiner Tischnachbarn, die noch heiter ihr Fleisch aßen und verabschiedete sich nickend von ihnen. Aus der Entfernung konnte man natürlich nicht sehen was er und die beiden sitzenden Männer noch zu sagen hatten, aber sie hoben zum Abschiedsgruße ihre Becher, nickten viel und sahen freundlich aus. Dann wollte er gerade gehen, aber schon nach dem ersten Schritt weg von der Festtafel liefen ihm die Jungs von Har dem Sattler an die Beine.

„Autsch!“ schimpfte kurz der jüngere der Brüder mit dem schönen Namen Eyvir und redet weiter: „Verzeihung. Wir spielen fangen.“

„Du bist dran!“ rief sein großer Bruder Thjodvar, haute Eyvir mit der flachen Hand auf den Rücken und rannte in die entgegengesetzte Richtung weg. So plötzlich wie die Jungs von 8 und 9 Jahren aufgetaucht sind, waren sie auch wieder verschwunden.

Schmunzelnd strich sich Hrodrik durch seinen roten Bart und ging über den niedrigen Rasen, welcher in Kindred wächst, zum südlichen Tor in der Palisade. Der Rasen ist recht Licht und viele kahle Stellen entblößen den nackten Erdboden. Im Winter ist dieser gefroren, im Herbst und Frühling matschig, aber nun im Sommer ist die oberste Schicht des Erdreiches trocken und es lässt sich gut darauf gehen. Einzig die Schuhe oder Füße von Passanten werden ein wenig staubig. Eine Weile lief er am Waldrand entlang. Hier wo Büsche und Sträucher den Wegrand säumten sah man kaum was im Wald geschieht und auf der anderen Seite war die undurchsichtige, relativ hohe Palisade aus massiven Baumstämmen und davon hauptsächlich Fichtenstämme. Einzig da wo die Natur die für die Palisade verwendeten Stämme hat krumm wachsen lassen, gewährten ein paar wenige Löcher in der Palisade für ein einziges Auge den Einblick ins Dorf, wenn man sich direkt an die Löcher stellte. Dieser Pfad zwischen Palisade und Waldrand war ziemlich finster, selbst heute am längsten und hellsten Tag des ganzen Jahres.

Je weiter sich Hrodrik vom Fest entfernte, desto stiller wurde es, aber so richtig leise wurde es nicht mehr bis er am Schamanenzelt am südöstlichen Ende der Palisade, außerhalb des Dorfes, ankam. Natürlich hatte es sich schon vor vielen Monaten herumgesprochen, dass Hrodrik jeden Tag, beinahe jede freie Stunde, im Zelt verbrachte, aber niemandem erzählte er, weder von sich aus noch auf Anfrage, was er darin machte und wieso. Man roch immer nur den Rauch, welcher aus dem Zelt strömte. Ein Rauch von Kräutern, denen man besondere Kräfte und Bedeutungen zusprach und die in Kindreds Wäldern häufig wachsen. Außerdem hörte man ständig, wie Hrodrik leise einen kaum verständlichen Gesang vor sich hin brabbelte, der entfernt nach Kehlkopfgesang klang. Seit dem Winter betrieb Hrodrik diese Tätigkeit und die Gerüchteküche brodelte natürlich. Manch einer glaubte Hrodrik bräuchte die Zeit einfach nur um seine Kräfte zu regenerieren, ein Anderer wollte lieber glauben er habe gehört Hrodrik hätte in seiner Jugend seinen eigenen Bruder erschlagen und würde nun jeden Tag und jede Nacht alleine Buße vor den Geistern seiner Ahnen und seines Bruders tun. So manch einer jedoch glaubte lieber daran Hrodrik sei nur interessiert seine freie Zeit zum Wohle der Gemeinschaft zu nutzen und die Knochen zu befragen. Dafür müsse er halt ungestört sein.

In Wirklichkeit jedoch war der Grund für seinen täglichen Aufenthalt im Schamanenzelt von erschreckendem und entsetzlichem Charakter, womit manch ein Dorfbewohner nicht ganz Unrecht gehabt haben mochte. Ein düsteres Geheimnis über das er mit keinem Lebenden zu sprechen wagte. Vielleicht hätte man ihn dann nicht mehr als Schamane ernst genommen oder sogar vertrieben.


Um den Grund zu erfahren muss man ein halbes Jahr in der Zeit zurückgehen. In den Winter, als der Wald verschneit, die Seen gefroren und der Himmel dunkel, durchzogen von Polarlichtern, war. Eines Nachts wachte Hrodrik nach einem bösen Traum schweißgebadet auf. Er holte tief Luft und schaute in sein dunkles Zimmer im Gasthaus von Kindred. Sein nasser Leib dampfte im eiskalten Raum. Die bunten Polarlichter schienen durch das einzige Fenster, welches Eisblumen zierten, und färbten die spartanische Möblierung gespenstig ein. Dann wurde ihm wieder einiges klar. Hrodrik hatte geträumt. Er befand sich in seinem Traum in der schier endlosen Tundra weit nördlich von Kindred, den angestammten Ländern seiner Ahnen. Es war Frühling in seinem Traum. Ein schöner sonniger Tag. Der Schnee schmolz an vielen Stellen und gab die niedergedrückten Büschel hoher Gräser und Stauden, die sich für den Winter in die eisige Erde zurückgezogen hatten, frei. Am Horizont wanderten die riesigen Herden Rentiere und in weiter Ferne sah man die Schemen verschneiter Bergketten, die den Himmel zu berühren schienen. Hrodrik schloss in seinem Traum die Augen und atmete die frische Luft ein. Es war genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Der Geruch, die Temperatur, der Wind und das warme Gefühl in seinem Herzen, welches ihm zuflüsterte zu Hause zu sein. Dann schaute er an sich herab, auf seine Hände. Er sah verändert aus. Aber es war kein unbekanntes Antlitz welches er sah, als er sich in einer Pfütze aus Tauwasser betrachtete, an die er sich kniete. Es war sein eigenes Gesicht, sein eigener Leib, doch mindestens zwanzig Jahre jünger und in Kleidung gehüllt, die noch seine Mutter für ihn schneiderte. Gefertigt aus Stoff, den seine Großmutter webte. Hrodrik war wieder jugendlich und strotzte vor Kraft in diesem Traum. Er blieb für eine Weile an der Pfütze knien und staunte. Dann hörte er eine Frauenstimme, die ihm wohlbekannt war. Eine Stimme, die er nicht vergessen konnte. Niemals. Eilig richtete sich Hrodrik auf und schaute sich um. Weit hinten, sicher 300 Schritt entfernt erkannte er die Umrisse einer jungen Nordmann Frau mit zwei strohblonden Zöpfen, gekleidet in ein langes weißes Kleid und geschmückt mit Bändern und Blumen in den Haaren. Es war Hildegard, seine Jugendliebe, und sie rief seinen Namen: „Hrodrik!“ Klang es wie Musik in seinen Ohren. Eilig richtete er sich auf und rannte auf sie zu. Sie streckten sich die Arme entgegen in Erwartung sich in einer Umarmung die Wärme ihrer Körper zu teilen. Hrodrik eilte den Hügel hinauf auf Hildegard zu, die unter dem einzigen sichtbaren Baum in der ganzen Tundra war. Als er näher kam erkannte er das Laub dieser drei Männer hohen Birke. Im Mystizismus der Nordmänner ein Baum der Jugend. Die kleinen hellgrünen Blätter wehten im Wind. Ebenso wie Hildegards Zöpfe. Doch kurz bevor er sie erreichte tauchte mitten in seinem Blickfeld, dicht vor Hrodrik, ein leicht transparenter, schwarzer Bärenkopf auf. Mit weit aufgerissenem Schlund raste dieser auf Hrodriks Gesicht zu und brüllte ihn furchterregend aus dem Schlaf.

In jener Nacht war ihm noch gar nicht bewusst was eigentlich geschehen war. Später wurde es ihm aber deutlich. Hrodrik war alleine. Das Totemtier seiner Ahnen, der schwarze Bär, hat ihm den Rücken gekehrt. Es war seine Bestrafung für die Untreue seiner ursprünglichen Heimat gegenüber. Bestrafung dafür, dass er die Länder und Grabstätten seiner Vorväter verlassen hatte. Nie wieder wollte der schwarze Bär ihm helfen.


So kam es, dass Hrodrik Tag für Tag im Schamanenzelt die Geister anrief. Die Geister seiner ehrwürdigen Ahnen und die Geister der Wälder von Kindred. Er suchte den Segen seiner Vorfahren, ein Zeichen der Vergebung, ein Zeichen für ihr Verständnis dafür, dass er in Kindred bleiben wollte und sich verpflichtet fühlte den Dorfbewohnern zu helfen in dieser finsteren, führerlosen Zeit. Eines Nachts antworteten sie ihm. Sie waren zornig ob seiner Untreue, aber zeigten Verständnis für seine edlen Motive. Mit ihrem Segen beschwor er weiter die Geister des Waldes und der Elemente. Sein früheres Totem, der schwarze Bär, würde sich aber nie wieder melden. So verbringt Hrodrik seitdem sehr viel Zeit dort im Schamanenzelt, hinter geschlossenem Vorhang am Feuer, auf der Suche nach einem mächtigen Geist, der ihm als neues Totem helfen und Hrodrik als Sprachrohr verwenden würde.


Gerade schob Hrodrik den Eingang aus gutem Leinenstoff zur Seite und wollte in das Zelt eintreten, er hatte sogar schon seinen Kopf gebückt um hindurch zu passen, als eine entzückende Frauenstimme, wie die eines jugendlichen Mädchens von rechts ertönte und sprach heiter, fast so als würde es kichern: „Hier drüben Hrodrik.“

Er schaute nach rechts, aber konnte niemanden sehen.

„Nein, hier neben dem Zelt.“ Sprach die Stimme wieder. Es klang fast so als wollte das Mädchen, das sich hinter der Stimme verbarg spielen.

Hrodrik schaute um die Ecke des braunen Schamanenzeltes in Richtung Waldrand. Er sah gerade noch wie die Blätter, im mit dichtem Unterholz gesäumten Waldrand, durch irgendjemanden, der sich immer weiter entfernte, raschelten.

„Komm Hrodrik, hier entlang!“ Rief die Stimme, jetzt etwas weiter weg, aus dem Waldesinneren.

Er dachte gar nicht lange darüber nach. Die Stimme verzauberte ihn mit ihrem Wohlklang viel zu sehr. Hurtig rannte der Schamane durch das Unterholz in den Wald. Er orientierte sich im Wald kurz als die Mädchenstimme wieder nach ihrem rief: „Du musst hier entlang. Beeil dich!“ Dieses Mal klang sie noch verspielter und fröhlicher als zuvor.

Hrodrik hörte woher die Stimme kam und lief sofort darauf zu, aber wieder sah er nur ein paar grüne Zweige, die über dem oberflächlich trockenem Waldboden, raschelten und anzeigten in welche Richtung er gehen müsse. Hastig trat er durch die Büsche und schaute sich um. Es war bereits eine fortgeschrittene Abendstunde in dieser Mittsommernacht, aber wie typisch dafür noch taghell.

Er drehte sich kurz nach hinten um und verschnaufte vom vielen Rennen. Dabei stütze Hrodrik seine Arme auf die Oberschenkel. Hinter sich war inzwischen Kindred und das Schamanenzelt nicht mehr zu hören, noch zu sehen. Ihm war gar nicht bewusst gewesen wie weit er schon gelaufen sein musste. Er blickte sich etwas genauer um. In diesem Teil des Waldes musste er noch nie gewesen sein. Es war eigentlich ein schöner Ort und er hatte eine magische, anziehende Ausstrahlung auf ihn. Es schien Hrodrik als würde er Feen leise singen hören, welche, wie man sich erzählt, in der Nacht des längsten Tages tanzen würden. Es schien ihm als blickten ihn die Kobolde, vielleicht auch Waldgnome aus ihren Verstecken an, getarnt unter Pilzkappen und in Baumlöchern. Dies war ganz sicher kein normaler Teil des Waldes. Die Luft um ihn erschien ihm plötzlich viel stickiger und es herrschte dieselbe angenehme Wärme, als wenn ihm Frühlingssonne auf die nackte Haut scheint. Dabei ging kein Lüftchen, nicht einmal Blätter raschelten in den Baumkronen oder Grashalme wiegten sich an diesem Platz im Wind. Um ihn herum standen Bäume so viel dicker und älter als alle Anderen, die er aus der Gegend um Kindred kennt. Es waren auch keine Fichten, sondern alles Laubbäume aus üblicher Weise wärmeren Ländern. Dicke Eichen und Buchen, mit breitem, Stamm und grober Borke. Ihre Wurzeln sahen gewunden wie Zweige von Haselnuss aus nur dick wie Fässer an den Stellen, wo sie aus dem Boden ragten und zu den massiven Stämmen zusammenliefen. Um die Stämme der einzelnen Bäume zu umgreifen hätte es sicherlich 10 bis 30 Nordmann gebraucht, die sich an den Händen haltend drum herum aufstellen müssten. So große Bäume hatte Hrodrik noch nie gesehen. Er warf einen Blick nach rechts. Ein kleiner Teich, ruhig und unnatürlich klar. Das Ufer war gesäumt mit niedrigem Schilf und Gras. Ein paar Waldtauben pickten friedlich den kaum bedeckten Erdboden ab, eine weitere Taube stillte ihren Durst am Teich und noch zwei Tauben badeten gar im flachen Wasser. Hinter dem Teich berührte das Wasser eine graue Granitwand. Ein breiter Felsstreifen. Von hier aus konnte er weder sehen wo dieser Felsstreifen begann, noch wo er endete. Langsam ging Hrodrik ein paar Schritte auf den Teich zu und scheuchte unabsichtlich die Waldtauben auf als er näher kam. Er blieb stehen und verfolgte die Tauben mit seinem Blick, wie sie zum Himmel davon flogen. Dabei stieß er an das vertikale Ende des Felsstreifens. Hinter dem Fels, er wirkte nun wie eine Klippe von etwa 4 Schritt Höhe, ging der ungewöhnliche Wald noch weiter. Soweit er sehen konnte war er nun umgeben von uralten, dicken Bäumen. Die Baumkronen dagegen waren unverhältnismäßig Licht und ließen Sonnenstrahlen bis auf den braunen Waldboden scheinen. Da wo das Licht auf Staubpartikel, fliegende Samen, wie die von Birken und Löwenzahn, oder geflügelte Insekten in der Luft traf schimmerte es wie Sterne. Die transparenten Flügel mancher Insekten strahlten sogar in allen Farben des Regenbogens, wo das Licht sich in ihnen brach.

Auf dem Felsstreifen saß ganz oben ein Rotfuchs, wie ein Hund der sitz macht, mit durchgestreckten Vorderläufen und den Hinterbeinen angezogen. Man sah das Tier aus dem Profil, aber der Kopf des Fuchses war Hrodrik zugewandt und schaute zu ihm hinunter. Hrodrik erwiderte den Blick und staunte mit offenem Mund als der Fuchs seine Lefzen öffnete und mit ihm wie ein Mensch sprach. In Aussprache und Vokabular schien der Fuchs Hrodrik auf den ersten Blick mindestens ebenbürtig. Es war dieselbe Mädchenstimme, die ihn an diesen Ort gelockt hat. „Da bist du ja endlich, Hrodrik.“

„Ein Fuchs?“ fragte Hrodrik verwundert.

„Eine Füchsin.“ Verbesserte sie ihn, stand auf, gähne, streckte zuerst ihre Vorderbeine von sich, dann die Hinterbeine und sprang langsam vom Felsen hinunter, indem sie ein paar Vorsprünge im Granit als Stufen ausnutzte und geschickt mit ihrem buschigen Schwanz balancierte. Mit dem letzten Sprung hopste sie in den flachen Teich und watete zum Rand hinaus auf Hrodrik zu. Auf dem Trockenen wieder angekommen schüttelte sie sich das rote Fell aus, welches vom Sprung in das kühle, klare Wasser ganz nass geworden war.

„Schön, dass du mich gefunden hast.“ Sprach sie weiter und tänzelte regelrecht um Hrodrik herum. Mehr wie eine Katze schlich die Füchsin um seine Beine, sie berührte hier und da seine Haut mit ihrer Flanke oder dem buschigen Schwanz. „Aber weißt du überhaupt schon warum du mich gesucht hast.“

„Du bist kein normaler Fuchs.“ er schüttelte kurz seinen Kopf schnell mit geschlossenen Augen und korrigierte sich selbst eilig und nervös. „Füchsin. Du bist keine normale Füchsin.“ Er machte kurz eine Pause. Sichtlich war er am nachdenken. Hrodrik blickte ihr hinterher, aber blieb wie angewurzelt mit beiden Stiefeln auf dem Boden stehen, als sie ihn umkreiste. „Du bist ein Geist.“ Sprach er dann weiter und klang sehr viel unsicherer als sonst in seiner Verwirrung über diesen Ort und der Überraschung.

Sie kicherte heiter. Es war ein süßes Lachen. Sie klang fröhlich und amüsiert. „Ja.“ Sagte sie seufzend nachdem sie sich von dem kurzen Kichern wieder erholt hatte. „Du hast mich gerufen, Hrodrik. Hier bin ich.“

„Dann willst du,“ er antwortete langsam und wählte seine Worte, so gut er konnte, mit Bedacht. „ehrwürdiger Geist des Waldes,“ er schaute prüfend, ob er das denn recht erkannt hatte und sprach erst weiter als sie zu seinen Worten tief und deutlich bekräftigend nickte „mein Totemtier sein?“ Sie schritt ein paar Fuchsschritte von ihm weg. Etwa auf halben Weg zwischen Hrodrik und dem Teich schaute die Füchsin kühl über ihre Schulter. Man hätte ihrem Gesicht fast die Gabe zuschreiben können Emotionen damit eindeutig zum Ausdruck zu bringen, obwohl es das eines Fuchses war. „Vielleicht kommst du ja auf den Geschmack?“ fragte sie Hrodrik selbstbewusst als sie ihn von oben nach unten musterte und wieder zurück. „Mmmmh…“ gurrte die Füchsin tief aus der Kehle. Das verwirrte Hrodrik außerordentlich. ‚Lag da etwas Erotisierendes in ihrer Stimme?‘ fragte er sich als sein Blick sich langsam senkte dem Ihren folgend. Er zuckte erschrocken zusammen. Pfoten. Er schaute über seine Schulter nach hinten. Ein buschiger roter Schwanz mit weißer Spitze. Er schaute weiter nach hinten an sich selbst vorbei. Er stand nur wenige Zentimeter über dem Erdboden. Hrodrik hatte sich in einen Rotfuchs Rüden verwandelt. Präziser formuliert: Sie hatte ihn verwandelt und er hat es zuerst gar nicht mitbekommen. Erst jetzt schaute er wieder schockiert geradeaus. Die Nase der Füchsin berührt beinahe seine eigene Nase. So dicht stand sie vor ihm.

„Süß siehst du als Fuchs aus.“ Kicherte sie heiter. „Gefällt es dir?“ fragte sie fröhlich und klang dabei wieder ganz wie das vermeintlich jugendliche Mädchen, dem er in den Wald gefolgt ist. Hrodrik war nicht bloß sprachlos, dass sie ihn an diesem Ort in die Gestalt eines Rotfuchses zwingen konnte, sondern erschrak sich vor allem, weil der Geist so plötzlich und unerwartet dicht vor seinem Gesicht aufgetaucht war. So stolperte Hrodrik unbeholfen vor Überraschung über seine vier Pfoten nach hinten und zu den Seiten. Er fiel um und landete vor der dicken Wurzel eines der umstehenden Bäume. Gerade als er aufstehen wollte hob ihn eine riesige knochige Hand, wie die einer alten Person, auf. Blinzelnd schaute Hrodrik sich um. Die Hand war ganz aus Holz und Borke und eigentlich ein dicker Ast. Der Baum vor dessen Wurzeln er gelandet war hielt Hrodrik vor sein Gesicht. Wie ein uralter Mann schaute der Baum neugierig auf Hrodrik. Hrodrik seinerseits versuchte sich mit seiner neuen Gestalt zurechtzufinden. Ihm gelang es sich in die Hand zu setzen, wenn auch etwas wackelig, nicht weil der Baum nicht still halten würde, sondern weil er nicht an die Fuchsgestalt gewohnt war. Hrodrik blickte dem Baum ins Gesicht. Ein langer dichter Vollbart aus dünnen Zweigen und grünen Blättern zierte sein Gesicht. Die runzelige, dicke Borke wirkte wie alte Haut und zwei dunkle Augen, wie aus Onyx, blickten Hrodrik an, wobei sich des Baumes wulstige Augenbrauen, die mit frischem Moos bewachsen waren, sich nachdenklich senkten und dann wieder hebten. Er lächelte Hrodrik an, doch dieser duckte sich im Glauben es sei ein Schnitter. Beinahe wäre er aus der Hand des Baumes gefallen und der Baum schaute stumm erschrocken, doch dieser reichte ihm schnell noch einen Ast in Form einer knöchernen Hand und stützte ihn ab. Bei den helfenden Bewegungen knarzte der Baum und die Blätter raschelten. Da wurde Hrodrik klar, dass dieser Baum kein Schnitter war. Dieser Baum war eine der letzten Bernsteinweiden. Noch nie zuvor hatte er eine gesehen. Er glaubte sie wären alle verschwunden gewesen. Ausgestorben. Es war ein Wunder an einem magischen Ort. Die Bernsteinweide lächelte, als sie an Hrodriks forschendem Blick erkannte, dass sie für Hrodrik keine Bedrohung mehr darstellte. Sanft führte die Bernsteinweide Hrodrik auf ihrer großen, knöchernen Hand zurück auf den Waldboden. Prüfend schaute er in das Gesicht der Bernsteinweide und erkannte im Lächeln des alten Mannes ein freundliches Gemüt. Hrodrik schnupperte in die Richtung der Bernsteinweide. Diese scharfen neuen Sinne waren eine faszinierende Erfahrung für ihn. Langsam, Schritt für Schritt, stieg Hrodrik aus der großen Hand und schaute dabei auch nochmal über seine Schulter zurück. Auf dem nur wenige Schritt weitem Weg zur Füchsin kam ihm diese auch schon langsam entgegen.

„Und? Gefällt es dir?“ fragte sie wieder fröhlich. Hrodrik sah mehr verzaubert von diesem magischen Ort und dieser Femme Fatal in Gestalt einer Füchsin aus, die so ganz anders war als die Geister mit denen er es bisher zu tun gehabt hatte, als wirklich nachdenklich über ihre Frage. „Ich könnte dein Totem sein und du mein Schamane.“

Hrodrik nickte und ohne ein weiteres Wort zu sagen ließ sie das ganze Umfeld um ihn und die Füchsin hell aufleuchten. Erst blau, dann weiß. Nach und nach verschwand im gleißenden, kalten Licht der magische Ort, an den sie ihn gebracht hatte. Zuerst die Dinge im Hintergrund, dann alles im Vordergrund. Zuletzt wurden er und sein neues Totem, die Füchsin, vom weißen Licht verschlungen.

Als es sich in umgekehrter Weise wieder verdunkelte und die Konturen Hrodriks Umgebung sichtbar wurden fand er sich vor dem braunen Schamanenzelt von Kindred am Waldrand wieder. Die Mitternachtssonne färbte alles in ein warmes rot. Auch Hrodriks menschliche Hände, die er sich anschaute. Er war wieder zu Hause und in seiner ursprünglichen Gestalt. Ein zufriedenes Lächeln zierte Hrodriks bärtiges Gesicht und sein Herz strahlte die lange vermisste Wärme aus, die ein jeder Schamane fühlt, der unter dem Schutz eines mächtigen Totemtieres stand. Hrodrik lauschte. Er hörte die durcheinander sprechenden Stimmen der Dorfbewohner von Kindred, die auf Prozession zum Altar der Ahnen waren. Wenn er sich beeilen würde, könnte er sie noch einholen. Und im Anschluss zur nächtlichen Andacht würde er den ganzen Morgen die kostbaren Tautropfen der Mittsommernacht aufsammeln. Einen Teil davon brauchte er wegen seiner heilenden Wirkung für die Dorfbewohner, aber einen nicht zu verachtenden Anteil, würde er als erstes Opfer seinem neuen Totem darbringen.

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