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448 Jahre zuvor

Vor 448 Jahren

Herbst 908

Das innere einer großen Halle. Die runde Grundfläche misst sicherlich 300 Schritte im Durchmesser. Keine Säulen durchbrechen die freie Fläche. Das mächtige Kuppeldach wird allein von den gewaltigen Wänden getragen, die erst weit, weit über den Köpfen der Betrachter in das Dach übergeht. Gänzlich aus schwarzen Granitblöcken sind die Mauern und die Kuppel errichtet. Kein Licht erhellt die Halle. Kein Licht, so könnte man glauben, wäre dazu auch nur im Stande. Doch für die Benutzer des Gebäudes sind keine Lichter nötig. Taghell sehen die Jungen und Mädchen vom Volk der Dunkelelfen darin. In quadratischer Formation stehen sie in Reih und Glied nebeneinander, so dass die Ecken des Quadrates, welches sie bilden, den Kreis zu berühren scheint. Mit ungefähr einem Schritt Abstand zu ihren Nebenmännern und -Frauen stehen die Dunkelelfen alle mit dem Gesicht in dieselbe Richtung. Gerade, mit leicht gespreizten Beinen stehen sie Barfuß auf dem hölzernen Parkett, welches zu Hochglanz poliert ist. Holzparkett in dieser Größenordnung hat im Unterreich, welches arm an Holz ist, sicherlich ein kleines Vermögen gekostet. Die jungen Dunkelelfen haben ihre Arme hinter dem Rücken verschränkt und warten stumm und regungslos, wie es scheint. Gekleidet sind sie ausschließlich und allein in die Gewandung eines Kampfsportlers aus grauer Baumwolle, deren Schnitt entfernt an einen Judomantel erinnern würde. Das Gewand wird bei jedem mit einem Gürtel aus demselben Material zusammengehalten. Kein Schmuck oder Zierrat befindet sich an irgendeinem von ihnen. Selbst die schlichte Gewandung ist nicht bestickt. Die Jungen und Mädchen stehen nach ihrem Alter sortiert. Wenn man ihnen gegenübersteht stehen auf der linken Seite des Betrachters die jüngsten Mädchen und Knaben. Sie scheinen gerade erst sechs oder sieben Jahre alt zu sein. Ganz rechts dagegen stehen die Ältesten, attraktive und sportliche, junge Erwachsene, die alle stark und gesund aussehen. Auffällig ist vor allem, dass es erheblich mehr von den Jüngsten in der Halle gibt. Je älter die Dunkelelfen, desto weniger sind es.

Sie blicken auf das geschlossene Eingangsportal. Eine Doppeltür aus schwarzem, dickem Holz, welches nicht nur zufällig an alte Schiffsplanken erinnert, sondern tatsächlich aus diesen Geschaffen wurde. Beschlagen mit geschwärztem Stahl wirkt die mindestens fünf Meter hohe gotische Doppeltür wie das Tor zu einer Festung oder Stadt. Würde man den Eingang alleine betrachten, würde sich niemand wundern, wenn dahinter eine Zugbrücke und Wassergraben warten, was aber, soviel sei verraten, nicht der Fall ist.

Weitere fünf Meter über dem imposanten Tor ist in die tiefe Mauer ein ebenfalls gotischer Bogen eingelassen. Dahinter befindet sich ein im Verhältnis zur Halle winziger Raum von fünf auf fünf Metern Grundfläche, der zur Halle offen ist und am gegenüberliegenden Ende eine normalgroße Eingangstür hat. Im Gegensatz zur Halle ist der Boden dieses Raums mit feinen Teppichen ausgelegt. Der Kenner wird bemerken, dass es orientalische Teppiche aus Nujelm sein müssen. Kostbar und sauber sehen sie aus in farbenfrohen Mustern die für Nujelm typisch sind. Am vorderen Ende des Raumes verhindert ein hölzernes Geländer, das man unabsichtlich die zehn Schritt bis zum Hallenboden hinab fällt. In der Mitte des Raumes befindet sich ein flacher, kleiner, runder Tisch aus demselben edlen Holz, wie das Geländer und seitlich versetzt davon zwei große, mit Rückenlehnen und Kissen versehene Liegen, die rot gepolstert sind.

Auf den fünf Höhenmetern zwischen dem Geländer und dem Hauptportalbogen weht ein riesiges rotes Banner mit der Insigne des Dunkelelfenhauses Duskryn sofort in schwarz darauf folgend, ohne die Regel der Heraldik zu achten, demnach auf Farben immer Gold und Silber zu folgen hat.

Mit leisem Geräusch öffnet sich die Tür zur kleinen und einzigen Zuschauertribüne. Ein Yath'abban in prächtiger Prunkrüstung, bewaffnet mit einer Hellebarde tritt durch den Eingang in den kleinen Raum, hält die Türe auf und ein zweiter Yath’abban, identisch gerüstet und bewaffnet, folgt ihm hinein. Beide nehmen Haltung links und rechts vom Eingang an. Über ihren Kettenhemden tragen sie schwarze Wappenröcke, die umgekehrt zum Banner, eine rote Hausinsigne Duskryns auf schwarzem Grund abbilden. Ihre Gesichter sind von den Schnabelhelmen gänzlich verdeckt, einzig die Sehschlitze zeigen ihre leuchtenden Augen und etwas von ihrer schwarzen Haut.

Kurz nachdem die Wächter den Raum gesichert haben betritt als nächstes eine augenscheinlich jugendliche Dunkelelfe den Raum. Die junge Erwachsene ist gekleidet in ein über der Taille hauteng an den Seiten geschnürtes Kleid aus roter Seide mit anstößig weit geschnittenem Dekolleté. Die langen Hängeärmel ihres Kleides berühren fast den Boden und die Schleppe reicht hinter ihr nicht bloß über die Füße sondern muss von zwei jungen Mädchen getragen werden, damit sie nicht den Boden damit fegt. Die jungen Mädchen sind offenbar Sklaven. Obwohl dunkelelfischer Rasse hat sie das nicht vor ihrem Schicksal bewahrt. Wenigstens müssen sie nicht wie viele Kindersklaven fremder Rassen unter unmenschlichen Bedingungen in den Minen arbeiten, sondern dürfen in hübsche Kleider gehüllt ihrer Herrin in direkter Nähe dienen.

Das schneeweise, lange Haar trägt die Dame offen. Glatt, frei von irgendwelchen Wellen oder Locken reicht es ihr bis über den Po. In ihrer rechten Hand hält sie eine stählerne Kette. Die Kette ist lang genug um einen dunkelelfischen Mann, der noch hinter den beiden Mädchen hereinkommt, hereinzuführen. Sein silbernes Haar trägt er kurz. Um seinen Hals trägt er ein breites, schwarzes Rothelederhalsband mit Ring für das andere Ende der Stahlkette. Sein wohltrainierter Oberkörper ist nackt und an den Beinen trägt er nur eine schwarze Rothelederhose mit passenden Sandalen.

Ihm folgt ein weiterer Mann. Ein Dunkelelf, gehüllt in eine schwarze Rothelederrüstung, die eng anliegt. Sein nahezu gesamter Leib ist mit Leder verhüllt. Einzig sein Kopf ist nicht mit dem schwarzen Leder bekleidet. Sein schwarzer Rechteckmantel und die gleichfarbige Kapuze aus Baumwolle verhüllen das Gesicht relativ gut.

Schlussendlich treten zwei erwachsene Menschensklaven in eleganter, aber schlichter Kleidung auf die Tribüne durch die Eingangstür. Einer trägt auf einem silbernen Tablett Getränke in Kelchen aus Gold und der andere Sklave trägt auf einem identischen Tablett Obst und Gebäck herein. Genussmittel aus allen Winkeln des Unterreichs, sowie der Oberwelt.

Die Dunkelelfe mit dem auffälligen, roten Kleid nimmt als erstes auf der linken Liege Platz. Die beiden Kindersklavinnen legen ihre Schleppe mit auf die große Liege, wobei die Füße und mit kostbaren, kleinen Juwelen besetzten Sandalen der edlen Dame sichtbar werden. Die Mädchen stellen sich danach abseits an die Wand, aber mit dem Gesicht hin zur Halle. Sichtlich neugierig betrachten sie die vielen Jungen und Mädchen zehn Meter unter ihnen.

Der angeleinte Mann wird mit einem Fingerzeig angewiesen vor ihr auf dem Teppich Platz zu nehmen.

„Mach Sitz, Raiquen!“ Lächelte sie zuckersüß zu ihm und schaut ihm zu wie er sich vor ihr hinkniet und seinen Kopf auf die Liege an ihren Bauch legt.

„Ein braver Ilharn bist du.“

Sie krault ihm ein wenig den Kopf und schaut dann zu dem Mann in der Lederrüstung, der auf der anderen großen Liege seinen Platz findet.

„Das sieht wirklich beeindruckend aus.“ Sagt sie.

„Alle Rekruten des Hauses sind versammelt. Die Ältesten werden bald zu Sargtlinen, sofern sie ihre Prüfung überleben, malla Yathbeldra Aleandra d‘ Che'el'harlnia.“ Antwortet er und schaut devot zurück, wobei er höflich lächelt.

Die beiden Menschensklaven servieren unauffällig den beiden Dunkelelfen auf den großen Liegen ihren Wein in den goldenen Kelchen und richten etwas von den Speisen auf dem Tisch an. Aleandra hält ihren Kelch frech locker aus dem Handgelenk. Sie nimmt sich einen Keks vom Tischlein und füttert damit ihren Ilharn wie ein Haustierchen.

„Kyr,“ spricht Aleandra den Mann in der Rothenlederrüstung auf der anderen Liege an „wo da unten ist mein Sohn?“

„Panyon sollten ziemlich in der Mitte stehen, bei den anderen Elfjährigen, malla Yathbeldra.“

„Oh, da ist er ja. Ich sehe ihn schon, Kyr. Sie sehen alle so gleich aus in ihren grauen Mänteln.“

Aleandra lächelt ganz schmal, aber macht nicht die geringsten Anstalten zu winken oder andere Zeichen von liebevoller Zuneigung für Panyon zu zeigen. Dennoch mustert sie Panyon. Schon als elfjähriger Knabe hatte er sein silbernes Haar zu einem festen Zopf zusammengebunden.


Beide Flügel des mächtigen Eingangsportals unter der Tribüne öffnen sich. Jeder Flügel wird von jeweils zwei männlichen Sklaven in einfachen Leinenkleidern und ohne Schuhen aufgedrückt. Sie scheinen große Menschen oder Nordmänner zu sein. Wie die meisten Sklaven, die in dieser Halle eingesetzt werden funkeln ihre Augen magisch von Nachtsichttränken, die sie eingeflößt bekommen. Müde und geschunden sehen sie davon aus, denn selbst , wenn sie schlafen und ruhen dürfen, müssen sie die Tränke nehmen, wodurch ihre Augen ständigem Licht ausgesetzt sind, obwohl ihre Körper längst unter dem Mangel von Sonnenlicht beginnen zu degenerieren.

Als sich das Tor zur Gänze geöffnet hat tritt aus einem Flur dahinter ein Dunkelelf in voller Prunkplattenrüstung aus Schattenstahl heraus. Einzig seinen Helm trägt er nicht. Über dem Kettenhemd trägt er ein einen langen Wappenrock bis zu den Knien aus feiner schwarzer Seide mit der blutroten Insigne des Qu’ellar Duskry bestickt. Über seine Schultern trägt er einen Rechteckmantel, keinen Piwafwi, aus nicht minder edlem schwarzen Tuch, aber gefüttert mit Rothenfell.

Direkt hinter dem Mann gehen die Sklaven mit gesenktem Haupt wieder hinaus und ziehen das Tor hinter sich zu. Als Aleandra das laute Poltern der Tür hört beugt sie sich neugierig vor um zu erkennen, was geschieht. Wenn der Mann endlich in ihr Blickfeld tritt, dreht er sich zu der Tribüne um. Er schaut hinauf, nur um zu sehen wer dort ist, registriert, dass es unter Anderen auch seine Ilharess und Yathbeldra ist, senkt sein Haupt respektvoll und salutiert indem er seine rechte Faust auf die linke Brust legt.

„Ah, da ist ja mein Ul’Saruk, Kyr. Wie schön.“ Sagt Alleandra zu ihrem Nebenmann und kichert heiter dabei.

Von unten ruft der Ul’Saruk.

„Vendui Eure Eminenz malla Yathbeldra Aleandra d’Che’el’Harlnia.“

„Vendui‘ Ul’Saruk. Ihr dürft anfangen.“

Und obwohl Aleandra bei ihrem Gruß sehr generös klingt, weiß jeder, dass sie mit dürfen eigentlich müssen meint. Sogleich verneigt sich der Ul’Saruk des Hauses vor ihr, wendet sich um einhundertachtzig Grad zu den Schülern herum und ruft laut und deutlich:

„Vendui Rekruten.“

Wie aus der Kanone geschossen ertönt sofort die synchrone Antwort aller Jungen und Mädchen.

„Vendui malla Ul’Saruk.“

„Begrüßt ihre Eminenz, die malla Yathbeldra Aleandra d’Che’el’Harlnia!“

Und wieder ertönt die laute, synchrone Antwort der Schülerinnen und Schüler.

„Vendui Eure Eminenz malla Yathbeldra Aleandra d’Che’el’Harlnia.“ Worauf hin sie sich verneigen und gleich wieder Haltung annehmen.

„Rekruten! Beginnt!“ Befiehlt der Ul’Saruk.

Unverzüglich beginnen alle Jungen und Mädchen synchrone Kampfschritte und –Schläge auszuführen. Ihr gleichzeitiger Auftritt auf das Holzparkett lässt, obwohl sie barfuß sind, den Boden unter den Füßen des Ul’Saruk erbeben. Er kann deutlich spüren, wie seine Fußsohlen in den Sabatons zittern. Bei manch einem Faustschlag in die Luft gegen ihre imaginären Gegner rufen sie laut einen Kampfschrei aus. Ein beinahe ohrenbetäubender Lärm.

„Diese Kampfkunst nennt sich Aluin Elghinn.“ Beginnt Kyr langsam und deutlich Aleandra zu erklären, während sie der Übung zusehen. „Eine Kampfkunst, aus einer Vielzahl von altbekannten Kampfbewegungen anderer Kampfkünste. Sie lässt sich sowohl bewaffnet mit Fernkampf und Nahkampfwaffen, wie auch unbewaffnet ausüben. Das Besondere daran, Eure Eminenz, ist die maximierte Tötlichkeit bei minimiertem Bewegungsaufwand.“

Mit einem schmalen, kaum sichtbaren Lächeln auf den vollen Lippen betrachtet Aleandra insbesondere ihren Sohn Panyon zwischen den anderen jungen Rekruten. Ohne Panyon aus den Augen zu lassen fragt sie Kyr: „Das Wissen um dieses Aluin Elghinn wird hoffentlich Niemandem, der nicht zu Duskryn gehört gelehrt.“

„Natürlich nicht, malla Ilharess. Bereits Eure Mutter lies es unter Androhung der Todesstrafe verbieten, dies an Fremde weiterzugeben.“

Aber Aleandra nickt nur knapp zu Kyrs Antwort. In Gedanken ist sie bereits bei einem ganz anderen, neuen Plan.

„Kyr, du wirst Panyons Ausbildung persönlich in die Hand nehmen.“

Er schaut erstaunt. Ehrfürchtig ohne das geringste Anzeichen von Widerwort spricht Kyr: „Xas, Eure Eminenz. Es ist mir eine Ehre.“

Ohne ein weiteres Wort wechseln zu müssen ist dem Meisterassassinen des Hauses alles Weitere klar. Auch er wirft nun einen genaueren Blick auf Panyon für den restlichen Verlauf der Übung.


10 Jahre später

Sommer 918


In Zeichensprache gibt Kyr dem jungen Erwachsenen einige Befehle: ‚Panyon, du gehst auf direktem Wege in das Schlafzimmer. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich werde mich darum kümmern, dass wir schnell wieder verschwinden können und dich niemand stört.‘ Dann gibt er Panyon eine Umhängetasche aus Rotheleder. Gleich danach reicht er ihm auch noch einen Zahnstocher aus seiner Brusttasche mit den geflüsterten Worten: „Hier Junge, das hilft dir dich zu konzentrieren.“ Kyr kaut ständig auf Zahnstochern herum. Panyon hat ihn nie anders kennen gelernt, aber das ist das erste Mal, dass er ihm einen Zahnstocher angeboten hat. Dieser hängt sich die Tasche über die Schulter, steckt sich den Zahnstocher in den Mund und noch bevor er nicken kann ist Kyr mit einem beinahe lautlosen Sprung eine Etage tiefer auf dem Balkon. Panyon schaut hinunter zu Kyr. Panyon steht auf dem Sims einer dreistöckigen Villa im Viertel des Qu’ellar Despana. Die Despana sind als Qu’ellar der Händler in der Drowstadt Che’el’harlnia bekannt. Wenn man von den Dächern der Stadt auf dieses Viertel schaut findet man mehr Prachtbauten als überall sonst innerhalb der Stadtmauern. Wie alle Gebäude in Che’el’harlnia ist auch die Fassade der Villa an der Panyon gerade auf dem Sims im zweiten Stock steht aus schwarzem Basalt und das Giebeldach ist aus grün angelaufenem Kupfer. Als Kyr durch die Balkontür unter Panyon verschwindet dreht er sich wieder der Wand zu und steigt an winzigen Vorsprüngen in der Wand hinauf bis zum Dachgeschoss. Sein Piwafwi wackelt beim Klettern von seiner Schulter über den Rücken und man könnte, würde ihn jemand beobachten, Panyons brandneue Rothelederrüstung sehen. Sie ist nicht nur nach Nützlichkeit geschnitten, sondern auch nach aktuellen, modischen Trends des Unterreichs. Beim ständigen Hochschauen rutscht seine Kapuze kurz hinunter und es blitzt kurz des Assassinenlehrlings silberner Zopf auf. Noch während er an der Wand hängt zieht er sich die Kapuze wieder über das Haupt. Im Dachgeschoss angekommen schaut Panyon durch das Doppelfenster. Verschlossen. In einen sichtlich anstrengenden Moment muss er sich einen Draht hervorzuziehen, den er um ein Holz gewickelt hatte. Er benutzt seine Zähne um das eine Ende des Drahtes festzuhalten, während er es mit der rechten Hand zum Teil abwickelt und gerade biegt. Mit seinen Füßen und der linken Hand muss er sich derweil festhalten um nicht drei Stockwerke tief auf die gepflasterte, nasse Straße zu fallen. Die Straßen in Che’el’harlnia sind immer nass, denn die Stadt ist in einer riesigen Tropfsteinhöhle unter dem Ozean erbaut worden.

Den halbwegs geraden Draht führt er in den Schlitz zwischen den beiden hölzernen Rahmen des Doppelfensters ein. Dabei schaut er hinein. Er sieht durch die schmutzigen Scheiben einen mit grünem Teppich ausgelegten Flur mit einer Treppe am gegenüberliegendem Ende und jeweils zwei Türen auf jeder Seite des Flurs. Der Fensterrahmen wurde vor einiger Zeit verkupfert, aber es ist wohl noch nicht lange her, denn das Kupfer hat noch nicht die grüne Patina angenommen, die auf den Dächern der Stadt die dominierende Farbe ist. Panyon schiebt den Draht weiter bis er den Haken auf der Innenseite des Fensters hochgeschoben hat. Sofort zieht Panyon das Fenster auf. Ein Glück es macht keine quietschenden Geräusche dabei. Sobald das Fenster offen ist klettert er beinahe lautlos hinein und zieht das Fenster gleich wieder hinter sich zu. Bevor er irgendetwas Weiteres macht lauscht Panyon. Er verharrt ein paar Sekunden und versucht zu hören ob jemand in der Nähe wach ist. Es ist zwar spät in der Nacht und von außen hat man kein Licht mehr gesehen, aber möglicher Weise ist jemand wach geworden in der Zwischenzeit. Als Panyon niemanden hören kann wickelt er den Draht wieder auf und steckt ihn dorthin zurück, wo er ihn hergenommen hat. Er rückt seine Kleidung zurecht und zieht eine kleine Armbrust unter dem Mantel hervor. Mit einem Bolzen, die er an einer Halterung auf der Hose in Oberschenkel höhe trägt, lädt er die Armbrust. Mit der Armbrust in der rechten Hand schleicht sich der junge Mann an die Zimmertür links vor der Treppe. Er hält den Atem an als er mit dem Ohr an der Tür lauscht. Nichts zu hören. Er drückt sein linkes Auge zu als er mit dem rechten Auge durch das Schlüsselloch späht. Ein Schlüssel steckt darin und versperrt ihm die Sicht. Panyon richtet sich auf, denn um durch das Schlüsselloch zu sehen musste er sich hinunter beugen. Aufmerksam, aber ohne zu trödeln schaut er sich den Türrahmen an. Unter der Tür findet er eine Schwachstelle, wie es scheint. Ein kurzes Lächeln huscht Panyon über die Lippen. Dann zieht er sich den Piwafwi aus. Nun muss alles schnell gehen. Gänzlich ohne Tarnung steht er im Flur und jeden Moment könnte jemand zu einer der Türen herauskommen oder den Flur hinauf. Der Türschlitz ist relativ hoch. Zumindest hoch genug, denkt Panyon. Er schiebt den Piwafwi unter dem Türschlitz hindurch. Dann kommt ihm ein Geistesblitz. ‚Kein Wunder, dass Kyr ständig auf diesen Hölzern herum kaut.‘ kam Panyon die Erleuchtung und griff sich an den Zahnstocher, den er im Mund hat. Langsam schiebt er den Zahnstocher durch das Schlüsselloch. Schloss und Türgriff sind aus Messing. Ein leises kratzendes Geräusch, eine Zehntelsekunde stille und dann ein dumpfer Aufschlag. Panyon hält die Luft an. Er lauscht und schaut mit einem Auge durch das Schlüsselloch. Er konnte ein Bett sehen. Eine korpulente Person lag darin, aber schien durch das Geräusch, welches der Schlüssel gemacht hat als er auf den Piwafwi gefallen ist, nicht geweckt worden zu sein. Panyon steckt sich den Zahnstocher wieder in den Mund und zieht vorsichtig den Piwafwi heraus. Darauf liegt der Schlüssel.

Ein zufriedenes Lächeln ziert des jungen Mannes Gesicht als er sich den goldenen Schlüssel von allen Seiten kurz anschaut und dann mit der ganzen Faust packt. Leise, nicht schwungvoll zieht er sich wieder seinen Piwafwi an und die Kapuze über. Als alles sitzt holt er ein Fläschchen Öl aus einer der vielen Taschen an seiner Kleidung. Mit dem Öl schmiert er die Scharniere der Tür und des Türgriffs großzügig. Gleich packt er die Flasche mit dem Öl wieder an ihren Ursprungsort zurück und schließt dann erst die Türe auf. Gänzlich lautlos, ohne verräterische Geräusche öffnet er die Tür mit der linken Hand. In der rechten Hand hält Panyon seine geladene Armbrust. Hinter sich schließt er die Tür wieder. Im Traum würde er nicht daran denken den Schlüssel von außen stecken zu lassen. Möglichst leise schleicht sich Panyon um das Bett. Der dicke Dunkelelf der in dem riesigen Bett aus teurem Tropenholz schlief war ein Sklavenhändler des Qu’ellar Despana. Panyons Mutter, der Ilharess des Hauses Duskryn, ist zu Ohren gekommen, dass er seit geraumer Zeit Sklaven in die Stadt schmuggelte ohne die nötigen Zölle am Stadttor zu zahlen. Die bestochenen Stadtwachen werden zeitgleich in den Folterkellern verhört. Alle Stadtwachen sind, das muss man wissen, Mitglieder des Hauses Duskryn. Der junge Dunkelelf fragt sich ernsthaft als er den Sklavenhändler sieht, wie man sich nur derart gehen lassen konnte. Für gewöhnlich sind Dunkelelfen schlank, beinahe mager. Selbst Wohlstand konnte die meisten eitlen Dunkelelfen nicht davon abbringen auf ihre Figur zu achten. ‚Ob er wohl an einer Krankheit leidet?‘ Der Gedanken schwand aus seinem Kopf, als er hinter dem Sklavenhändler eine Sklavin sieht. Sie ist in die Kule des Dunkelelfen gerutscht. Eine exotische Sklavin. Soweit Panyon es durch die dünne Bettdecke erkennen kann eine nackte Waldelfe, gefesselt und mit einem Lederball im Mund geknebelt. Das einstmals stolze Mädchen liegt dort mit trockenen und feuchten Tränen im Gesicht… wach! Man kann sich an Waldelfen nicht heranschleichen. Es ist ein Naturgesetz. Doch sie gab keinen Mucks von sich. Trotzdem hält Panyon die Armbrust auf sie gerichtet, sie bedrohend. Sie schließt nur die Augen und wartet stumm weinend, aller Würde anscheinend schon vor langer Zeit beraubt.

Panyon greift nun in die Umhängetasche, die ihm vorhin Kyr mitgegeben hat. Er holt einen Brotleib heraus. Das Brot ist noch ganz warm. Es ist eine Warnung unter den Assassinen in Che’el’harlnia. Der Empfänger bekommt mitgeteilt, dass es einem Auftragsmörder gelungen ist unbemerkt bis zu seinem Bett zu schleichen und genauso gut einen Dolch in seinem Herz hinterlassen hätte können. Manchmal wachen die Empfänger auf bevor das warme Brot abgekühlt ist. Der Schreck sitzt dann umso tiefer, wenn sie realisieren, dass es erst ein paar Minuten her sein kann, dass sie Besuch hatten. Ihm wird damit eine letzte Chance zu Teil seine Fehler gegenüber dem Haus Duskryn zu korrigieren. Kommentarlos legt er es dem Sklavenhändler auf das Kopfkissen neben dessen Gesicht. Ein wenig Ekel fährt Panyon durch das Mark als er ihn auf das Kissen sabbern sieht und die feuchte Lache unter seinem Mundwinkel bemerkt. Panyon schüttelt nur den Kopf und schleicht dann zum Ausgang. Doch als er an der Tür ist beginnt die Waldelfe laut zu weinen, zu zappeln und zu quängeln. Es hört sich an als würde sie in Gemeinsprache darum betteln, dass er sie töten solle, aber mit dem Lederknebel im Mund ist sie nicht richtig zu verstehen. Als Panyon gefühlskalt nach draußen eilt wird die Waldelfe hysterisch. Er bemerkt gerade noch, dass der Sklavenhändler wach wird, das warme Brot sieht und berüht. Kaum war die Tür geschlossen ruft dieser lauthals nach den Wachen. Eilig rennt Panyon die Treppe neben der Tür herunter. Die Wendeltreppe führt ihn in den zweiten Stock. Drei Flure führen von hier aus durch die riesige Villa, aber welchen Weg musste er nehmen um Kyr zu finden?

Die Frage wird dem unerfahrenen Assassinenlehrling abgenommen als ihm Kyr wie aus dem Nichts auf die Schulter klopft.

„Hier entlang, Panyon!“

Gestresst wie selten schlägt Panyon das Herz bis zum Halse auf der Flucht. Sie bewegen sich zügig, aber ohne Panik durch die Flure. Kyrs routinierte Gelassenheit spendet Panyon in dieser Situation unschätzbar wertvolle Ruhe. Als sie um die zweite Ecke gehen schrickt Panyon kurz zurück, erkennt er doch nicht sofort, dass die beiden Leibwachen des Sklavenhändlers, den er im Hintergrund immer noch nach diesen brüllen hören kann, tot sind. Kyr muss sie während Panyon im Schlafzimmer war aus dem Weg geräumt haben. Einer der beiden Männer ist mit einem Armbrustbolzen, der ihm zielgenau durch den Mund geschossen wurde, an die linke Wand des Flures gepinnt. Es sieht aus als würde er schlaff an der Wand stehen und sich auf seine Hellebarde stützen. Das Blut, das ihm aus dem Mund und Hinterkopf tropft bildet bereits zu seinen Füßen eine große Lache. Der zweite Leibwächter sitzt ihm schräg gegenüber an der anderen Wand in einer mehr als unnatürlichen Position. Sein Kopf schlaff und deplatziert auf den Schultern. Kyr muss ihm mit bloßen Händen das Genick gebrochen haben.

„Nicht anhalten!“ befiehlt Kyr Panyon, greift ihn an der Hand und zieht ihn mit, den Flur hinunter. Sie rennen auf den Balkon zu. Andrenalin schießt ihm durch die Blutbahnen. Panyon bemerkt vor lauter Furcht noch nicht einmal, dass just in diesem Augenblick hinter ihnen zwei weitere Leibwächter, den Flur hinterherrennen. Erbarmungslos lässt Kyr Panyon nicht los und ihn auch nicht abbremsen. Mit den Schultern schmeißen sie sich gegen die hölzernen Flügeltüren zum Balkon und nur zwei Schritte später springen sie aus dem zweiten Stock vom schwarzen Basaltgeländer des Balkons in die Tiefe. Vollstes Vertrauen in einem Grad den man unter Dunkelelfen niemals vermuten würde, denn Panyon wusste nicht, dass Kyr vorher schon auf der Suche nach einem Fluchtweg überprüft hat, dass man von dort aus in einen Heuwagen springen kann.


438 Jahre später

Herbst 1356 – Die Gegenwart


In einem langen Nachthemd aus blauem Gewebe mit passender Schlafmütze steht Panyon auf dem Balkon im zweiten Stock seines kleinen Turmes im neuen Noamuth Yath, welches scheinbar genauso schnell wieder aufgeblüht ist, wie es zerstört wurde. Das große Beben brachte eine Menge Veränderungen mit sich. Die Umwälzungen machtpolitischer und vor allem demographischer Art hatten riesige Auswirkungen auf Panyon. Breite Teile der ehemaligen Oberschicht des alten Noamuth Yaths fanden einen grausigen Tod als die Lava über ihre Ufer trat oder verloren in Folge dessen all ihre weltliche Macht und Habe. Die starren Machtverhältnisse alter Tage machten sie träge und unflexibel. Bis sie sich an die neuen Umstände gewöhnt hatten, konnten die Gewieften und Tüchtigen Land gut machen, das sich nicht so schnell einholen lassen würde. Eine neue Yathbeldra, die Panyon augenscheinlich wohlgesonnen ist, konnte die Macht ergreifen bevor die alten Machthaber auch nur einen Blick in die neue Stadt geworfen hatten.

Panyon lässt seinen Blick über die Flachdächer Noamuth Yaths schweifen. Die Stadt ähnelt so wenig seiner alten Heimat in Che’el’harlnia. Hier sind die meisten Gebäude aus grauem Basalt und sie leuchten rötlich vom ewig brodelnden Feuer im Herzen der Stadt. Es ist so viel trockener als in der Höhle in der er aufwuchs, aber auch deutlich enger.

Panyons nujanidische Sklavin klopft an die Schlafzimmertür.

„Herein!“ befiehlt Panyon.

Ohne Panyon eines Blickes zu würdigen geht sie leise, weil sie barfuß ist, zu Panyon auf den Balkon. In ihren Händen hält sie ein hölzernes, unlasiertes Tablett aus einfachem billigem Holz. Darauf steht, als würde es nicht dazugehören, eine kostbare volle Tasse aus zwergischem Porzellan mitsamt Untertasse.

„Ah, mein Tee. Wunderbar!“ Panyon nimmt sich die Tasse und Untertasse vom Tablett. „Du darfst dich auf deinen Platz setzen.“

Panyon schaute dabei zu ihr hinüber und deutet ihr mit dem Kopf zum Teppich und den Kissen, wo er sie nach Bedarf gelegentlich festkettet. Dann dreht er sich wieder dem Ausblick von seinem Balkon zu.

Enger ist es in Noamuth Yath, aber seit dem Beben wenigstens nicht mehr so überfüllt. Die Bevölkerung ging drastisch zurück. Vor allem die Diener, Hauslosen und Sklaven starben in großer Zahl in der Erfüllung ihrer Pflicht. Manche Ilharessen befahlen ihrem Gefolge noch als das Feuer schon vor ihren Türen stand zu bleiben und das Gebäude und die vermeintlichen Schätze darin zu retten. Ein aussichtsloses Vorhaben, das Hunderten, wenn nicht sogar Tausenden, das Leben kostete. Panyon, der vor dem großen Beben ein mehr als trauriges Dasein fristete, sollte einer der Gewinner der großen Umwälzung werden. Verloren hatte er nichts als Plunder und ein viel zu enges Wohnklo in den Flammen. Darüber muss er schmunzeln und verschluckt sich beinahe an seinem Tee. Er hustet etwas, aber beruhigt sich wieder. Mit der neu erworbenen Sklavenhändlerlizenz hat Panyon eine lukrative neue Einnahmequelle erschlossen. Diese Stadt dürstete nach Arbeitskräften jeglicher Art. Kinder und Zwerge für die Minen, Nujaniden und andere schöne Männer für die Bedürfnisse der exzentrischen, neureichen Damen und robuste, menschliche Facharbeiter aus den Gewerbezentren Britain und Schattental für die Geschäftstätigen.

Es weiten sich Panyons Augen als er sich bewusst wurde, dass er nun ein relativ wohlhabender Sklavenhändler in einem schmucken Turm im Nobelviertel der Stadt ist. So wie jener Dunkelelf, den er vor über 430 als jugendlicher Lehrling eine Warnung auf dem Kopfkissen hinterließ.

Nach einem Moment des Schreckens verdrängt er diesen Vergleich wieder und muss etwas lächeln, als ihm die Erinnerung an seinen alten Lehrmeister Kyr ins Gedächtnis zurückkommt. ‚Warum habe ich eigentlich noch nie daran gedacht einen Lehrling aufzunehmen? Arbeit gibt es genug. Die neuen Sklaven fangen sich schließlich nicht von selbst und meine Anstellung beim Ul’Saruk ist auch nur solange aufgehoben bis ein neuer gewählt wurde.‘

In den kommenden Tagen wird sich Panyon gezielt nach den vielversprechendsten Kindern und Jugendlichen in Noamuth Yath umschauen, die Interesse an einer unvergleichlichen Ausbildung haben könnten, wie es sie nirgendwo in Noamuth Yath sonst gibt.

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